Im Land der Orangenbluten
aber die Strömung trieb sie am Seil hinter dem Boot her. Sie ruderte verzweifelt mit dem freien Arm, um näher an das Boot heranzukommen, was ihr mit unendlicher Kraftanstrengung schließlich auch gelang. Sie klammerte sich mit beiden Händen an die Kante und versuchte mit letzter Kraft sich hochzuziehen, brachte das Boot dadurch aber fast zum Kippen. Unmöglich! Wenn sie sich hochzog, würde Reiner womöglich ins Wasser stürzen. Erika überlegte fieberhaft. Ihre Finger schmerzten, lange würde sie sich nicht mehr halten können. Wenn es ihr allerdings gelingen würde, das Boot ein wenig zu lenken, vielleicht würde sie es bis zum Ufer schaffen? Inzwischen war die Strömung nicht mehr so stark, und auch die Stromschnellen schienen überwunden. Erschöpft sah sie sich um. Ob das Ufer auf der einen oder der anderen Seite näher war, sie vermochte es nicht zu sagen. Mit den Beinen strampelnd versuchte sie das Boot zu drehen, was ihr ganz langsam auch gelang. Erika nahm alle Kraft zusammen und ruderte mit den Beinen gegen die Strömung an. Dann schlugen die ersten Äste gegen das Holz, sie hatte das Ufer fast erreicht! Ihre Finger aber waren klamm und taub, und sie spürte entsetzt, wie sie vom Rand abrutschte. Das Boot drehte sich wieder mit der Strömung den Bug voran und glitt ihr fort. Sie versuchte das Tau zu halten und paddelte verzweifelt mit den Armen. Einige dünne Äste der im Wasser stehenden Bäume entglitten ihr, als sie danach fasste. Plötzlich bekam sie einen herben Schlag vor die Brust. Ein dicker Ast! Sie klammerte sich an ihn, doch das Boot zerrte an ihrem Arm. Wenn sie es schaffen würde, das Tau um den Ast zu bekommen, würde vielleicht wenigstens Reiner ... irgendjemand würde das Boot schon finden. Das Tau lag über dem Ast, sie müsste also einmal hindurchtauchen und es um ihn legen, ihr Körper würde das Boot dann hoffentlich halten. Sie konnte nicht mehr. Reiner ... Reinhard.
Bevor ihr gänzlich die Sinne schwanden, holte Erika noch einmal tief Luft und ließ sich unter dem Ast hindurchgleiten. Sie spürte gerade noch, wie sich das Tau spannte und das Boot mit einem Ruck in der Strömung stehen blieb, dann wurde sie wieder nach oben gedrückt. Sie versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, um sehen zu können, ob das Boot tatsächlich stand. Der Bug wippte nur wenige Meter von ihr sachte auf und ab, über ihr ging die gleißende Sonne am Himmel auf.
Das Letzte was Erika hörte, außer dem Plätschern des Wassers, war das leise Gegluckse ihres Sohnes.
Kapitel 2
Martinas Sohn wurde in eine drückende, schwüle Augustnacht hineingeboren. Er begrüßte die Welt mit einem empörten Schrei, der durch das ganze Plantagenhaus hallte. Julie war erleichtert. Martina hatte fast zwei Tage in den Wehen gelegen, und selbst Pieter war unruhig geworden, als die Geburt nicht voranging. Amru und die Hebamme aus dem Sklavendorf hatten aber zur Ruhe gemahnt. Julie hatte den Frauen geholfen, soweit sie konnte, sie hatte heißes Wasser gebracht und frische Tücher. Martina hatte sie in ihrer Erschöpfung sogar an ihrer Seite toleriert, und Julie hatte sich Mühe gegeben, ihrer Stieftochter Mut zuzusprechen. Obwohl Julie die Geburt an sich schockiert hatte. Noch nie hatte sie dergleichen erlebt, und bei dem Gedanken, dass sie selbst vielleicht irgendwann einmal ...
Amru hatte versucht, sie zu beruhigen. »Misi, das ist der schönste Schmerz, den eine Frau haben kann, und wenn das Baby da ist, ist auch alles schnell vergessen.« Trotzdem hatte Julie geschaudert in den letzten Stunden, in denen Martinas Kind endlich unaufhaltsam in die Welt gedrängt hatte.
Martina war tapfer, aber am Ende bis ins Mark erschöpft gewesen. Kurz begrüßte sie noch ihren Sohn, dann verließen sie die Kräfte. Sie bekam nicht mehr mit, wie Amru und Julie den kleinen Jungen wuschen, in saubere Laken wickelten und an Martinas Seite legten. Pieter kam kurz, um seinen Sohn mit stolzgeschwellter Brust zu begrüßen. Amru schob ihn jedoch schnell wieder aus dem Raum. »Misi Martina braucht Ruhe.«
Julie blieb neben Martina sitzen, auch wenn sie selbst sehr müde und erschöpft war. Karl ließ sich erst am nächsten Morgen blicken. Er begutachtete kurz seinen Enkel und warf Julie dann einen mehrdeutigen Blick zu. War es Wut, die sich darin spiegelte oder gar ein stiller Vorwurf? Julie wusste es nicht. Sie hatte im Zuge von Martinas Schwangerschaft häufig darüber nachgedacht, aber selbst auch keine Erklärung dafür, warum sie nicht
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