Im Land der Orangenbluten
ihren Namen?
»Juliette!« Aus der Menge tauchte ein blonder Haarschopf auf.
»Wim?«, rief Julie durch das bunte Treiben in seine Richtung.
Atemlos kam der junge Mann neben ihr zum Stehen.
»Gut, dass ich dich noch erwische!«
»Was machst du denn hier, Wim?« Julie freute sich sehr, ihren Cousin zu sehen. Dabei hatten sie sich eigentlich gestern schon verabschiedet.
»Ich konnte dich doch nicht so gehen lassen!« Wim sah seine Cousine liebevoll an. Julie wurde warm ums Herz. Er war der Einzige in dieser Familie, dem sie je etwas bedeutet hatte. »Ich wollte dich richtig verabschieden. So mit Tränen und Tücherschwenken und so was!« Er lächelte verschmitzt, bevor seine Miene ernst wurde. »Und dann gibt es noch etwas, das ich dir sagen muss, etwas, das ich gehört habe, obwohl ich es eigentlich nicht sollte. Investigativer Journalismus sozusagen ...«
Julie verdrehte die Augen. »Sag schon, was gibt es denn so Wichtiges?«, fragte sie sorglos. Wim war schon immer gut darin gewesen, aus jeder Kleinigkeit ein Geheimnis zu machen. Wahrscheinlich war ihm nur eine weitere schauerliche Tropenkrankheit eingefallen, vor der er sie warnen wollte.
Wim warf Aiku einen Blick zu. »Kann der Niederländisch?«, fragte er misstrauisch.
»Ja, ich glaube schon, aber er kann nicht sprechen«, meinte Julie.
Wim runzelte die Stirn und zog sie ein paar Schritte von Aiku weg. Dann senkte er die Stimme: »Dieser Leevken ... Er hat dich nur geheiratet, um an dein Erbe zu kommen.«
Julie zog überrascht ihre Augenbrauen hoch. »Mein Erbe?«, fragte sie ungläubig.
»Ja, dein Erbe! Was glaubst du denn, wo das Erbe deiner Eltern gelandet ist?«
»Mein Erbe? Na, wenn ich einundzwanzig werde, bekomme ich es doch.«
Wim lachte auf. »Ja, Juliette, das war so – bis zu deiner Hochzeit. Aber jetzt, jetzt ist Leevken der Verwalter deines Erbes, bis du volljährig bist. Und wenn ich mir den so ansehe, wird er es vermutlich nicht sparen und für dich vermehren.« Wims Gesicht war ernst, in seinen Augen spiegelte sich Sorge. »Gestern Abend, als ihr euch verabschiedet hattet, habe ich anschließend meine Eltern belauscht. Wobei ich kaum glauben konnte, was ich hörte. Aber es stimmt, ich hab’s nachgeprüft. In Vaters Arbeitszimmer gibt es Unterlagen.«
»Du hast deinen Vater ausspioniert?« Julie sah ihren Cousin tadelnd an.
Wim griff sie bei den Oberarmen, was ihm einen drohenden Blick von Aiku einbrachte. »So hör mir doch zu, Juliette! Vater hatte große Schulden bei Leevken und konnte sie nicht begleichen. Und nun bist du ... tja, du bist sozusagen die Bezahlung dafür!«
Julie stutzte.
»Juliette!« Wim blickte sie beschwörend an. »Mein Vater und dieser Leevken stecken unter einer Decke! Die haben dich eiskalt verbandelt!«
»Aber ... aber, Onkel Wilhelm wollte mich in eine Diakonissenanstalt geben, ich ... ich hab mich selbst für Karl entschieden, ich ...«
»Ach was!« Wim schüttelte heftig den Kopf. »Sie hätten dich schon nicht an den Haaren ins Kloster geschleppt – ganz abgesehen von dem Geld, das die Diakonissen da zum Einstand fordern. Aber selbst wenn: Länger als drei Jahre hättest du nicht bleiben müssen. Du hättest dein Erbe mit einundzwanzig Jahren ausbezahlt bekommen. Aber jetzt ... jetzt kriegt es dieser Leevken!«
Weiter kam er nicht, eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Der junge Mijnheer Vandenberg! Wie nett, dass Sie sich von meiner Frau verabschieden möchten.« Mit einem grimmigen Blick hatte sich Karl hinter Wim aufgebaut.
»Mijnheer Leevken ...« Wim ließ sich von Karl nicht einschüchtern. »Ich ...«
Karl unterbrach ihn schroff. »Ja, Sie dürfen sich gern verabschieden. Aber schnell, bitte schön, denn wir müssen nun auf das Schiff. Leben Sie wohl, Mijnheer Vandenberg, und richten Sie Ihrem Vater meine besten Grüße aus.«
»Juliette ...!« Wim schien noch etwas sagen zu wollen, blieb aber mit hängenden Schultern zurück. Es war ohnehin zu spät für Worte. Juliette Leevken hatte ihr Schicksal gewählt.
Karl griff Julie am Arm und schob sie vor sich her. Dabei stieß er unwirsch ein paar Leute zur Seite, die ebenfalls zum Schiff drängten, und bugsierte Julie in die Warteschlange vor dem Steg, über den es an Deck ging. Julie schaute noch einmal zurück. Wim war nicht mehr zu sehen, dafür traf ihr Blick kurz die Augen einer jungen, ebenso verängstigt dreinblickenden Frau in frommer Missionarsschwesterntracht. Obwohl in ihrem Blick Angst lag, schenkte sie Julie jetzt
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