Im Land der Orangenbluten
schwerlich folgen. Neugierig hob sie immer wieder vorsichtig den Kopf, um sich auf dem Schiff umzusehen. Reinhard warf ihr einen tadelnden Blick zu. Schließlich war es ihre Pflicht, dem Gebet nachzukommen, aber im Grunde schien er eher froh, dass sich seine Frau auf See nicht zu so einem jammernden Bündel wie Josefa entwickelt hatte.
Es hatte vor der Abreise durchaus Spannungen zwischen den beiden gegeben. Allzu viele Dinge waren in allzu kurzer Zeit zu erledigen gewesen. Da hatte schnell das eine Wort das andere gegeben. Reinhard hatte Erikas Bedenken nicht nachvollziehen können. Erika hatte sich schnell darauf besonnen, ihre Gedanken bezüglich der Missionsreise für sich zu behalten. Es stand ihr nicht zu, zu klagen.
Als sie jetzt langsam den Blick über das Schiff schweifen ließ, sah sie im hinteren Bereich nochmals einen Deckaufbau. Ihre Aufmerksamkeit wurde von den Personen, die sich dort aufhielten, magisch angezogen. An der Reling saßen Damen in feinen Kleidern auf richtigen Stühlen. Kurz traf ihr Blick auf den einer jungen Frau, die wiederum die Passagiere auf dem vorderen Deckbereich neugierig zu beobachten schien.
Wie es wohl ist, auf so einem Schiff in einer besseren Klasse zu reisen?, schoss es Erika durch den Kopf. Ob die Passagiere dort wohl in Betten oder auch in schwankenden Matten lagen? Vermutlich schliefen sie in Betten, und bestimmt gab es auch bessere Speisen als eine dünne Suppe. »Denk an die armen Menschen in Indien«, hallten die Worte ihrer Mutter in ihrem Kopf. Ihre Mutter, Gott habe sie selig, hatte Erika immer getadelt, wenn sie begehrliche Gedanken nach etwas Luxus hatte aufkommen lassen. Sie schalt sich nun selbst: Solche Wünsche sollte sie nicht haben. Es war recht, wie sie untergebracht war, und es mangelte schließlich an nichts ... außer frischer Luft, Privatsphäre und gesunder Kost.
Schnell senkte Erika wieder den Kopf und konzentrierte sich auf Bruder Walters Worte.
Fortan durften die Zwischendeckpassagiere jeden Tag für ein paar Stunden an Deck. Erika wartete immer sehnsüchtig auf den Moment, in dem der Matrose die Luke öffnete. Sie dürften sich jedoch nur im vorderen Teil des Schiffes aufhalten, dahinter wolle der Kapitän sie nicht sehen, da dies die gehobenen Schiffsgäste störe, hatte der kleine Schiffsjunge Erika mit wichtiger Miene auf ihre Frage erklärt, warum das Deck durch ein Tau unterteilt sei. Erika konnte es dem Kapitän nicht einmal verübeln. Die Holzfäller benahmen sich nicht gerade vorbildlich, und je länger die Reise dauerte, desto unzufriedener und aufmüpfiger wurden sie. Unter Deck kam es fast jeden Tag zu Streitereien, nicht nur unter den Arbeitern, sondern auch mit Bruder Walter, der sich in seiner Ruhe gestört fühlte. Reinhard hingegen versuchte, Kontakt zu den gestandenen Männern zu knüpfen, musste dafür aber auch einiges einstecken. Mit einem »Pfaffen« wollten diese Arbeiter nichts zu tun haben. Zudem wollte Reinhard nichts trinken und verstand sich nicht aufs Kartenspiel.
Nach einigen Tagen ruhiger Überfahrt wurde die See wieder rauer. Man schloss die Luke, da bereits Wellen über das Deck schwappten. Josefas Magen drehte sich erneut unablässig um, und unter dem Geschaukel behielten auch einige der Holzfäller ihre Getränke nicht mehr zuverlässig bei sich. Nachdem dann auch noch die Aborteimer aus ihren Ecken geschleudert wurden und außer Erika und Reinhard niemand Anstalten machte, die stinkende Brühe aufzuwischen, wurde auch Erika flau im Magen.
»Ich brauche frische Luft!« Mit dem Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen, stürmte sie die Stiege empor. Ob sie sich heute auf Deck aufhalten durfte oder nicht, war ihr egal. Sie musste raus aus dem Gestank.
Kapitel 12
Julie nahm all ihren Mut zusammen. Aikus Verbleib ließ ihr keine Ruhe. Die Gelegenheit war günstig. Wind war aufgekommen und schaukelte das Schiff kräftig über die Wellen. Es ächzte und knarrte bedrohlich. Die meisten Passagiere zogen es vor, nicht an Deck zu gehen. Julie ging langsam, an die Reling geklammert, zum vorderen Bereich. Schnell schlüpfte sie unter dem Tau, welches als Absperrung diente, hindurch. Sie vermutete in diesem Bereich des Schiffes den Abstieg zu den anderen Unterkünften. Ihr Herz klopfte einen kurzen Moment bis zum Hals, sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich hier nicht aufhalten durfte, und sie wusste nicht, ob es Angst oder der Wellengang waren, das ihren Magen nun zum Rumoren brachte. Ein paar Meter weiter
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