Im Land der Sehnsucht
Ausstrahlung zu erliegen konnte alles verderben. „Der Verlust eines geliebten Menschen kann furchtbar zerstörerisch wirken. So sehr, dass …“ Sie unterbrach sich. „Haben Sie irgendwelche Erfahrungen in dieser Hinsicht?“
„Keine, über die ich im Moment sprechen möchte“, antwortete er kurz angebunden.
Marissa sah auf die sonnenbeschienene Straße hinaus.
„Dann geht es Ihnen wie mir.“ Anstatt das Thema weiterzuverfolgen, stellte Holt die nächste Frage. „Dann sind Sie dreiundzwanzig?“
„Ja.“
Diesmal glaubte er ihr, denn das Alter passte zu dem Eindruck, den sie von Anfang an auf ihn gemacht hatte: eine einsame junge Frau mit einem kleinen Sohn – zart, feinfühlig, gebildet – und am entschieden falschen Ort. Sie glich der Heldin aus einem romantischen Roman, deren Schicksal ihre Schönheit war.
Holt gefielen Marissas schwarze Locken ebenso wie ihre lebhaften blauen Augen und ihre helle empfindliche Haut, die vor starkem Sonnenlicht geschützt werden musste. Ihre unschuldige Ausstrahlung rief ungewohnte Gefühle in ihm wach, ebenso wie ihr starker Sex-Appeal, der ihr anscheinend völlig unbewusst war.
Und doch passte das alles nicht zusammen. Nach der Geburt eines Kindes konnte sie unmöglich so gertenschlank sein und vor allem nicht so unbedarft wirken. Warum nannte Riley sie dann „Ma“? Warum blickte er so zutraulich zu ihr auf, und warum war er so viel jünger? Entweder war er ein Nachkömmling der Eltern oder das Ergebnis einer unglücklichen Teenageraffäre. In beiden Fällen konnte es nicht leicht für sie gewesen sein, aber sie hatte sich nicht unterkriegen lassen. Beide, sie und Riley, wirkten irgendwie tapfer. Das beeindruckte ihn. Pearson, dieser lüsterne Kerl, hatte ihr arg zugesetzt. Er war ein guter Cowboy, wenn er sich jedoch noch einmal so vergessen sollte, würde er gehen müssen.
„Im nächsten April werde ich vierundzwanzig“, brach Marissa das Schweigen. „Ich frage noch einmal, Mr. McMaster, können Sie mir helfen?“
„Vielleicht“, antwortete Holt, ohne sich von dem ängstlichen Ausdruck in ihren blauen Augen beeindrucken zu lassen. „Ich habe eine sechsjährige Tochter. Sie heißt Georgina und ist alles andere als ein fröhliches Kind. Ihre beiden letzten Erzieherinnen, die sich in rascher Folge ablösten, haben wenig Erfolg bei ihr gehabt. Ich musste sie beide entlassen. Zurzeit überwacht ihre Tante den Unterricht, aber sie wohnt eigentlich in Sydney und möchte gern dorthin zurückkehren. Ich bin übrigens geschieden“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, und es klang, als könne er sich kaum noch an seine Ehe erinnern.
Marissa wusste das schon. Sie hatte in einem längeren Gespräch mit Daisy davon erfahren, gab das aber klugerweise nicht zu erkennen. „Das tut mir leid“, sagte sie stattdessen.
„Das muss es nicht.“ Holt blieb bei seiner abweisenden Haltung. „Ich trauere meiner Verflossenen nicht nach. Das wahre Opfer ist Georgy. Ihre Mutter wollte sie nicht haben. Die Rolle gefiel ihr nicht, und so zog sie weiter.“
Wie Kira, dachte Marissa, doch aus irgendeinem Grund versäumte sie es, Holt auf die Parallele hinzuweisen. „Arme Georgina“, sagte sie nur und fragte sich, was in der Ehe sonst noch schiefgelaufen sein mochte.
„Ich steckte voller Vorurteile“, fuhr Holt zu ihrer Überraschung fort. „Ich war zum Beispiel der Ansicht, Mütter seien von Natur aus darauf festgelegt, ihre Kinder zu lieben und großzuziehen. Meine Exfrau entwickelte jedoch nicht das geringste Einfühlungsvermögen für ihre Tochter.“
„Das kommt öfter vor“, murmelte Marissa. Warum sagte Holt „ihre“ und nicht „unsere“ Tochter? Das war zumindest verwunderlich. „Vielleicht litt Ihre Frau an postnataler Depression. Dieses Phänomen ist häufig beobachtet worden.“
Holt nickte. „Anfangs war ich derselben Ansicht. Normalerweise verliert sich das jedoch mit der Zeit. Bei Tara war das nicht der Fall. Ich bemühe mich, den Verlust wettzumachen, und Taras Schwester Lois hilft mir dabei. Sie liebt Georgy und kommt oft aus Sydney zu Besuch.“
Darauf würde ich wetten, dachte Marissa und schämte sich ein bisschen dabei. Wahrscheinlich liebte Tante Lois ihren Exschwager mehr als ihre Nichte, genau wie die beiden entlassenen Erzieherinnen. Holt war ungewöhnlich anziehend, das ließ sich beim besten Willen nicht leugnen. Er war der geborene Verführer, der romantische Held, von dem jede Frau träumte. Sie selbst hatte allerdings andere
Weitere Kostenlose Bücher