Im Land der weissen Rose
band die Stute am Zaun an und machte sich auf die Suche nach
Helen. Im Stall befand sich nur die Kuh. Dann aber hörte sie den
gellenden Schrei einer Frau im Wohnhaus.Es war offensichtlich Helen;
sie schrie so entsetzt, dass Gwyn das Blut in den Adern gefror.
Erschrocken suchte sie nach einer Waffe, um die Freundin verteidigen
zu können, beschloss dann aber, sich mit der Reitpeitsche zu
behelfen und Helen sofort zu Hilfe zu eilen.
Ein Angreifer war allerdings nicht zu erkennen. Helen machte eher
den Eindruck, als hätte sie gerade harmlos ihre Stube gefegt –
bis sie irgendein Anblick vor Schreck erstarren ließ.
»Helen!«, rief Gwyn. »Was ist?«
Helen machte keine Anstalten, sie zu begrüßen oder sich
auch nur zu ihr umzusehen. Nach wie vor starrte sie entsetzt auf das
Ding in der Ecke.
»Da ... da ... da! Was ist das, um Himmels willen? Hilfe, es
springt!« Helen floh in Panik rückwärts und wäre
dabei fast über einen Stuhl gestolpert. Gwyneira fing sie auf
und wich ebenfalls vor der fetten, glänzenden Schrecke zurück,
die jetzt immerhin von ihr weghüpfte. Das Tier war ein
Prachtexemplar – bestimmt zehn Zentimeter lang.
»Das ist ein Weta«, erklärte sie gelassen.
»Vermutlich ein Boden-Weta, aber es könnte auch ein
Baum-Weta sein, das sich verlaufen hat.Auf jeden Fall ist es kein
Riesen-Weta, die können nämlich nicht springen ...«
Helen schaute sie an, als wäre sie einer Anstalt entsprungen.
»Und es ist ein Männchen. Nur falls du ihm einen Namen
geben willst...« Gwyneira kicherte. »Mach nicht so ein
Gesicht, Helen. Sie sind eklig, aber sie tun dir nichts. Bring das
Vieh raus und ...«
»Ka ... kann man es nicht er ... erschlagen?«, fragte
Helen zitternd.
Gwyn schüttelte den Kopf. »So gut wie unmöglich.
Sie sind nicht totzukriegen.Angeblich nicht mal dann, wenn man sie
kocht... was ich allerdings noch nicht versucht habe. Lucas kann
stundenlange Vorträge darüber halten. Es sind sozusagen
seine Lieblingstiere. Hast du ein Glas oder so was?« Gwyneira
hatte schon einmal zugeschaut, wie Lucas ein Weta fing, und stülpte
nun geschickt ein leeres Marmeladenglas über das riesige Insekt.
»Erwischt!«, freute sie sich. »Wenn wir das Glas
zugeschraubt kriegen, könnte ich es Lucas als Geschenk
mitbringen.«
»Mach keine Witze, Gwyn! Ich dachte, er ist ein Gentleman!«
Helen fasste sich langsam, starrte aber immer noch mit Faszination
und Abscheu auf das gefangene Rieseninsekt.
»Das schließt sein Interesse an Krabbeltieren ja nicht
aus«, bemerkte Gwyn. »Männer haben seltsame
Vorlieben ...«
»Das kannst du laut sagen.« Helen dachte an Howards
nächtliche Vergnügungen. Er ging ihnen fast täglich
nach, wenn Helen nicht gerade ihre Regel hatte. Die allerdings hatte
nach kurzer Zeit ausgesetzt – das einzig Positive am Eheleben.
»Soll ich einen Tee kochen?«, fragte Helen. »Howard
mag Kaffee lieber, aber ich hab Tee für mich gekauft.
Darjeeling, aus London ...« Ihre Stimme bekam einen
sehnsüchtigen Beiklang. Gwyneira schaute sich in dem ärmlich
eingerichteten Raum um. Die zwei wackeligen Stühle, die sauber
gescheuerte, jedoch abgenutzte Tischplatte, auf der die Maori-Bibel
lag. Der brodelnde Eintopf auf dem schäbigen Ofen. Das alles war
nicht die ideale Atmosphäre für eine Teestunde. Sie dachte
an Mrs. Candlers gemütliches Heim. Dann schüttelte sie
entschlossen den Kopf. »Tee kochen können wir nachher.
Jetzt sattelst du erst mal das Maultier ... Insgesamt gestehe ich
dir... na, sagen wir mal, drei Reitstunden zu. Dann treffen wir uns
in Haldon.«
Das Maultier erwies sich als wenig kooperativ.Als Helen es
einfangen wollte, lief es davon und schnappte nach ihr. Sie atmete
auf, als Reti, Rongo und zwei andere Kinder erschienen. Helens
erhitztes Gesicht, ihr Schimpfen und die Hoffnungslosigkeit ihrer
Einfangaktion gab den Maoris zwar wieder mal Anlass zum Kichern, doch
Reti hatte dem Maultier das Halfter binnen weniger Sekunden umgelegt.
Er ging Helen dann auch beim Satteln zur Hand, während Rongo das
Tier mit Süßkartoffeln fütterte.Aber dann half alles
nichts.Aufsteigen musste Helen allein.
Gwyneira setzte sich auf den Koppelzaun, während sie
versuchte, das Tier in Gang zu bringen. Die Kinder stießen sich
an und kicherten erneut, als das Muli anfangs keine Anstalten machte,
auch
Weitere Kostenlose Bücher