Im Land der weissen Rose
schwungvoll
ab, um möglichst ohne längeres Pendeln sofort bei Dave zu
landen. Beim ersten Mal schwang er jedoch in die falsche Richtung und
blieb zu weit von dem Jungen entfernt. Er hangelte nach dem Halt für
seinen Fuß; dann versuchte er es ein weiteres Mal. Diesmal
gelang es. David ergriff das Seil, während Lucas’ Fuß
nach einer Stütze angelte.
Aber dann gab der Strick nach! Der Felsen oben auf der Klippe
musste sich bewegt haben, oder Lucas’ ungeschickt geknüpfter
Knoten hatte sich gelockert. Zuerst schien sein Körper nur ein
Stück weit abzurutschen. Er schrie auf – und dann ging
alles in Sekundenbruchteilen. Das Seil oberhalb der Klippe löste
sich vollkommen.Lucas fiel, und David klammerte sich an den Strick.
Der Junge versuchte verzweifelt, den Absturz des Freundes
aufzuhalten, doch aus seiner liegenden Position heraus war es
hoffnungslos. Das Seil rutschte durch seine Finger, immer schneller
und schneller. Wenn es bis ans Ende durchschoss, würde nicht nur
Lucas in die Tiefe fallen, auch Davids letzte Chance wäre dahin.
Mit dem Strick konnte er sich vielleicht noch ins Flussbett abseilen.
Ohne würde er auf der Felsnase verhungern und verdursten. Die
Gedanken schossen Lucas durch den Kopf, während er immer tiefer
abrutschte. Er musste eine Entscheidung treffen – Davey konnte
ihn nicht halten, und wenn er überhaupt lebend unten ankam,
würde er sich auf jeden Fall verletzen. Dann half das Seil
keinem von ihnen. Lucas beschloss, einmal im Leben das Richtige
zutun.
»Halt das Seil!«, rief er zu David hinauf. »Halt
unbedingt das Seil fest, egal was passiert!«
Gezogen von seinem Gewicht, schoss das Seil immer schneller durch
Davids Finger. Sie mussten bereits verbrannt sein; womöglich
würde er gleich schon aus Schmerz aufgeben.
Lucas sah zu ihm auf, sah das verzweifelte und doch so schöne
Jungengesicht, das er so sehr liebte, dass er bereit war, dafür
zu sterben. Dann ließ er los.
Die Welt war ein Meer aus Schmerzen, die wie Messerstiche durch
Lucas’ Rücken rasten. Er war nicht tot, aber er wünschte
es sich in jeder dieser grauenhaften Sekunden. Sehr lange konnte es
nicht mehr dauern, bis der Tod ihn ereilte. Nach einem Sturz von
vielleicht zwanzig Yard war Lucas auf Davids »Goldstrand«
aufgeschlagen.Er konnte die Beine nicht bewegen, und sein linker Arm
war gelähmt: Ein offener Bruch; der zersplitterte Knochen hatte
das Fleisch durchstoßen. Wenn es nur schnell endete ...
Lucas biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien, und
hörte Davids Stimme von oben.
»Luke! Halt durch, ich komme!«
Und tatsächlich, der Junge hatte das Seil gehalten und nun
geschickt irgendwo auf der Felsnase befestigt. Lucas betete, dass
David nicht ebenfalls abrutschte, doch tief im Herzen wusste er, dass
Davids Knoten hielten ...
Zitternd vor Angst und Schmerz verfolgte er, wie der Junge sich
abseilte. Trotz des gebrochenen Beins und seiner gewiss zerschundenen
Finger hangelte er sich gekonnt am Felsen entlang und erreichte
schließlich den Strand. Vorsichtig lastete er sein Gewicht auf
das gesunde Bein, musste dann aber kriechen, um zu Lucas zu gelangen.
»Ich brauch ’ne Krücke«, sagte er gespielt
munter. »Und dann versuchen wir, am Fluss entlang nach Hause zu
kommen ... oder im Fluss, wenn’s sein muss. Was ist mit dir,
Luke? Ich bin glücklich, dass du lebst! Der Arm heilt schon
wieder, und ...«
Der Junge kauerte sich neben Lucas und untersuchte seinen Arm.
»Ich ... ich sterbe, Davey«, flüsterte Lucas. »Es
ist nicht nur der Arm. Aber du ... du kommst zurück, Dave.
Versprich mir, dass du nicht aufgibst ...«
»Ich gebe nie auf!«, sagte David, doch es gelang ihm
nicht, dabei zu lachen. »Und du ...«
»Ich ... hör zu, Dave, würdest du ... könntest
du ... mich in den Arm nehmen?« Der Wunsch brach aus Lucas
heraus; er konnte sich nicht bezähmen. »Ich ... möchte
...«
»Du möchtest auf den Fluss schauen?«, fragte
David freundlich. »Er ist wunderschön und glänzt wie
Gold.Aber... vielleicht ist es besser, wenn du still liegen
bleibst...«
»Ich sterbe, Dave«, wiederholte Lucas. »Eine
Sekunde früher oder später ... bitte ...«
Der Schmerz war rasend, als David ihn aufrichtete, schien dann
aber plötzlich zu verschwinden. Lucas spürte nichts mehr
außer dem Arm des
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