Im Land der weissen Rose
Aussteuer vor. Sie investierte
ihr weniges erspartes Geld in zwei neue Kleider und Unterkleidung und
erstand ein wenig Bett- und Tischwäsche für ihr neues Heim.
Gegen eine geringe Gebühr durfte sie auch ihren geliebten
Schaukelstuhl mit auf die Reise nehmen, und Helen verbrachte Stunden
damit, ihn sorgfältig zu verpacken. Schon um ihre Aufregung
niederzukämpfen, begann sie früh mit den
Reisevorbereitungen und war im Grunde schon vier Wochen vor Antritt
der Ãœberfahrt mit allem fertig. Lediglich die unangenehme
Pflicht, ihre Familie von der Abreise in Kenntnis zu setzen, verschob
sie fast bis zum Schluss. Doch irgendwann ließ es sich nicht
länger hinauszögern – und die Reaktion war wie
erwartet: Helens Schwester zeigte sich schockiert, ihre Brüder
erbost. Wenn Helen nicht mehr gewillt war, für ihren Unterhalt
aufzukommen, würden sie wieder bei Reverend Thorne
unterschlüpfen müssen. Helen fand, dass es ihnen nur gut
täte, und ließ es sie auch ziemlich unverblümt
wissen.
Was ihre Schwester anging, nahm Helen deren Tiraden nicht eine
Sekunde lang ernst. Susan führte zwar seitenlang aus, wie sehr
sie ihre Schwester vermissen würde, und an manchen Stellen
zeigte der Brief sogar Spuren von Tränen, die aber wohl eher
darauf zurückzuführen waren, dass die Sorge um Johns und
Simons Studiengebühren jetzt auf Susans Schultern lasten würde.
Als Susan und ihr Mann schließlich nach London kamen, um
»doch noch einmal über die Sache zu reden«, ging
Helen gar nicht auf Susans angeblichen Trennungsschmerz ein.
Stattdessen erklärte sie, ihre Auswanderung würde an der
Beziehung zu Susan kaum etwas ändern. »Viel öfter als
zweimal im Jahr haben wir uns bis jetzt doch auch nicht geschrieben«,
sagte Helen ein wenig boshaft. »Du hast genug mit deiner
Familie zu tun, und mir wird es sicher bald nicht anders gehen.«
Wenn es doch nur endlich einen konkreten Anlass gäbe, daran
zu glauben!
Doch Howard hüllte sich nach wie vor in Schweigen. Erst eine
Woche vor Helens Abreise, als sie längst aufgegeben hatte, dem
Briefträger an jedem Morgen aufzulauern, brachte ihr George
einen Briefumschlag mit vielen bunten Marken.
»Hier, Miss Davenport!«, sagte der Junge aufgeregt.
»Sie können ihn gleich öffnen. Ich verspreche, ich
petze nicht, und ich schaue Ihnen auch nicht über die Schulter.
Ich spiele mit William, okay?«
Helen war mit ihren Zöglingen im Garten; die Schulstunden
hatte sie bereits beendet. William beschäftigte sich allein
damit,den Ball planlos durch die Tore beim Krocket zu schlagen.
»George,du sollst nicht ›okay‹ sagen!«,
tadelte Helen gewohnheitsmäßig, während sie mit
unziemlicher Hast nach dem Brief griff. »Wo hast du das Wort
überhaupt her? Aus diesen Schmuddelheften, die das Personal
liest? Lass sie um Himmels willen nicht herumliegen. Wenn William
...«
»William kann nicht lesen«, fiel George ihr ins Wort.
»Das wissen wir doch beide, Miss Davenport, egal was Mutter
glaubt. Und ich werde nie wieder ›okay‹ sagen, ich
versprech’s. Lesen Sie jetzt Ihren Brief?« Der Ausdruck
auf Georges schmalem Gesicht war unerwartet ernst. Helen hätte
eigentlich eher mit seinem üblichen, anzüglichen Grinsen
gerechnet.
Aber was sollte es? Selbst wenn er seiner Mutter verriet, dass
sie, Helen, während der Arbeit private Briefe las – in
einer Woche würde sie auf See sein, wenn nicht ...
Helen riss den Brief mit zitternden Händen auf. Wenn Mr.
O’Keefe nun kein Interesse mehr an ihr zeigte ...
Â
Meine sehr verehrte Miss Davenport!
Worte vermögen nicht zu sagen, wie sehr Ihre Zeilen meine
Seele berührt haben. Ich habe Ihren Brief nicht mehr aus den
Händen gelassen, seit ich ihn vor wenigen Tagen erhielt. Er
begleitet mich überall hin, bei der Arbeit auf der Farm, bei den
seltenen Ausflügen in die Stadt – wann immer ich danach
taste, empfinde ich Trost und eine überschäumende Freude,
dass irgendwo, weit fort von mir, ein Herz für mich schlägt.
Und ich muss zugeben, dass ich ihn in den dunkelsten Stunden meiner
Einsamkeit mitunter verstohlen an die Lippen führe. Dieses
Papier, das Sie berührt haben, über das Ihr Atem streifte,
ist mir so heilig wie die wenigen Andenken an meine Familie, die ich
heute noch wie Schätze hüte.
Wie aber soll es nun
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