Im Land der weissen Rose
benötigte also keine Hauslehrerin mehr, und
William ...
»Was William angeht, werde ich mich vielleicht nach einer
etwas nachsichtigeren Kraft umsehen«, überlegte Mrs.
Greenwood. »Er ist ja noch sehr kindlich, darauf muss man
Rücksicht nehmen!«
Helen nahm sich zusammen und stimmte ihr geflissentlich zu,
während sie schon an ihre neuen kleinen Zöglinge an Bord
der Dublin dachte. Mrs. Greenwood hatte ihr großzügig
gestattet, den sonntäglichen Ausgang zur Messe auszudehnen und
die Mädchen in der Sonntagsschule kennen zu lernen. Wie erwartet
waren sie zart, unterernährt und eingeschüchtert. Alle
trugen saubere, aber mehrfach geflickte graue Kittelkleider, doch
selbst bei der Ältesten, Dorothy, zeichneten sich darunter noch
keinerlei weibliche Formen ab.Das Mädchen war gerade dreizehn
geworden und hatte zehn Jahre ihres kurzen Lebens mit ihrer Mutter im
Armenhaus verbracht. Ganz zu Anfang war Dorothys Mutter noch irgendwo
angestellt gewesen, aber daran konnte das Mädchen sich nicht
mehr erinnern. Sie wusste nur noch, dass ihre Mutter irgendwann krank
geworden und schließlich gestorben war. Seitdem lebte sie im
Waisenhaus. Vor der Reise nach Neuseeland fürchtete sie sich zu
Tode, war andererseits jedoch bereit, alles nur Erdenkliche zu tun,
um ihre künftige Herrschaft zufrieden zu stellen. Dorothy hatte
erst im Waisenhaus lesen und schreiben gelernt, bemühte sich
aber nach Kräften, den Rückstand aufzuholen. Helen
beschloss im Stillen, sie auf dem Schiff weiter zu unterrichten. Sie
verspürte sofort Sympathie für das zierliche, dunkelhaarige
Mädchen, das sicher zu einer Schönheit heranwachsen würde,
wenn man es nur ordentlich fütterte und ihm endlich keinen Grund
mehr gab, mit gebeugtem Rücken und wie ein geprügeltes
Hündchen vor allem und jedem zu kuschen. Daphne, die
Zweitälteste, war da schon mutiger. Sie hatte sich lange allein
auf der Straße durchgeschlagen, und sicher war es eher Glück
als Unschuld gewesen, dass man Daphne letztlich nicht bei irgendeinem
Diebstahl erwischte, sondern krank und erschöpft unter einer
Brücke fand. Im Waisenhaus behandelte man sie streng. Die
Leiterin schien ihr flammend rotes Haar für ein untrügliches
Zeichen von Lebenslust, ja Lebensgier zu halten und bestrafte sie für
jeden übermütigen Seitenblick. Daphne war das Einzige der
sechs Mädchen, das sich freiwillig für die Verschickung
nach Übersee gemeldet hatte. Für Laurie und Mary, höchstens
zehnjährige Zwillingsschwestern aus Chelsea, galt das sicher
nicht. Beide waren nicht die Klügsten, wenn auch brav und
halbwegs anstellig, wenn sie erst einmal begriffen hatten,was man von
ihnen wollte. Laurie und Mary glaubten jedes Wort, das ihnen die
böswilligen kleinen Jungen im Waisenhaus über die
schrecklichen Gefahren der Seereise erzählt hatten, und so
konnten sie kaum glauben,dass Helen die Überfahrt ohne größere
Bedenken antrat. Elizabeth hingegen, eine verträumte
Zwölfjährige mit langem, blondem Haar, fand es romantisch,
sich auf den Weg zu einem unbekannten Ehemann zu begeben.
»Oh, Miss Helen, es wird sein wie im Märchen!«,
flüsterte sie. Elizabeth lispelte ein wenig, wurde deshalb
ständig gehänselt und erhob die Stimme nur selten. »Ein
Prinz, der auf Sie wartet! Bestimmt verzehrt er sich nach Ihnen und
träumt jede Nacht von Ihnen!«
Helen lachte und versuchte, sich aus der Umklammerung ihres
jüngsten Zöglings, Rosemary, zu befreien. Rosie war
angeblich elf Jahre alt, doch Helen schätzte das völlig
eingeschüchterte Kind auf bestenfalls neun. Wer auf den Gedanken
gekommen war, dieses verstörte Wesen könnte sich irgendwie
selbst seinen Lebensunterhalt verdienen, war ihr schleierhaft.
Rosemary hatte sich bisher an Dorothy geklammert. Nun, da sich ein
freundlicher Erwachsener anbot, wechselte sie übergangslos zu
Helen. Die fand es rührend, Rosies kleine Hand in der ihren zu
spüren, wusste aber, dass sie die Anhänglichkeit des
Mädchens nicht fördern durfte: Die Kinder waren bereits
Dienstherren in Christchurch zugesagt, und so durfte sie in Rosie auf
keinen Fall die Hoffnung schüren, sie könnte nach der Reise
bei ihr bleiben.
Zumal Helens eigenes Schicksal ja ebenfalls noch völlig
ungewiss war. Von Howard O’Keefe hatte sie nach wie vor nichts
gehört.
Helen bereitete trotzdem eine Art
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