Im Land der weissen Rose
Es soll einen Platz im Salon finden. Leider muss ich
nach Daguerreotypien arbeiten, denn ich kann mich kaum an meine
Mutter erinnern. Sie starb, als ich noch klein war. Doch beim
Arbeiten stellen sich mehr und mehr Erinnerungen ein, und ich habe
das Gefühl, als käme ich Mutter dabei näher. Es ist
eine höchst interessante Erfahrung. Ich würde auch Sie gern
einmal malen, Gwyneira!«
Gwyneira stimmte halbherzig zu. Ihr Vater hatte vor der Abreise
ein Porträt von ihr anfertigen lassen, und sie hatte sich beim
Modellsitzen zu Tode gelangweilt.
»Vor allem brenne ich darauf, Ihre Meinung zu meiner Arbeit
zu hören. Sicher haben Sie in England viele Galerien besucht und
sind über die neueren Entwicklungen weit besser informiert als
wir hier am Ende der Welt!«
Gwyneira hoffte nur, dass ihr dazu noch ein paar beeindruckende
Worte einfallen würden. Eigentlich hatte sie ihren dahin
gehenden Vorrat zwar gestern schon erschöpft, aber vielleicht
brachten die Bilder sie ja auf neue Ideen. Tatsächlich hatte sie
noch nie eine Galerie von innen gesehen, und die neueren
Entwicklungen der Kunst waren ihr völlig gleichgültig. Ihre
Vorfahren – und auch die ihrer Nachbarn und Freunde –
hatten im Laufe der Generationen ausreichend Gemälde angehäuft,
um ihre Wände damit zu schmücken. Die Bilder zeigten
hauptsächlich Ahnen und Pferde, und ihre Qualität
beurteilte man eigentlich nur anhand des Kriteriums »Ähnlichkeit«.
Begriffe wie »Lichteinfall« und »Perspektive«,
über die Lucas endlos schwadronieren konnte, hörte Gwyneira
zum ersten Mal.
Dafür bezauberten sie jedoch die Landschaften, durch die sie
ritten.Am Morgen war es neblig gewesen; jetzt aber kam die Sonne
durch, und die Nebel enthüllten Kiward Station, als mache die
Natur Gwyneira damit ein besonderes Geschenk. Lucas führte sie
natürlich nicht weit hinauf in die Ausläufer des Gebirges,
wo die Schafe weitgehend frei weideten, doch auch das Gelände in
unmittelbarer Nähe der Farm war wunderschön. Der See
spiegelte die Wolkenformationen am Himmel, und die Felsen auf den
Weiden sahen aus, als hätten sie soeben den Grasteppich
durchstoßen wie gewaltige Zähne oder wie eine Armee von
Riesen, die jeden Moment lebendig würden.
»Gibt es da nicht eine Geschichte, in welcher der Held
Steine sät, und dann erwachsen daraus Soldaten für sein
Heer?«, fragte Gwyneira.
Lucas zeigte sich begeistert über ihre Bildung. »Es
sind allerdings keine Steine, sondern Drachenzähne, die Jason in
der griechischen Mythologie in die Erde einbringt«, verbesserte
er sie. »Und die daraus erwachsende Armee aus Eisen erhebt sich
gegen ihn.Ach, es ist wundervoll, sich mit klassisch gebildeten
Menschen auf dem gleichen Niveau austauschen zu können, finden
Sie nicht auch?«
Gwyneira hatte eigentlich eher an die Steinkreise gedacht, die
sich in ihrer Heimat fanden und zu denen ihre Kinderfrau ihr einst
abenteuerliche Geschichten erzählt hatte. Wenn sie sich recht
erinnerte, hatten Priesterinnen hier römische Soldaten gebannt
oder so etwas.Aber diese Geschichte war Lucas sicher nicht klassisch
genug.
Zwischen den Steinen weideten die ersten Schafe aus Geralds
Bestand – Mutterschafe, die kürzlich abgelammt hatten.
Gwyneira war hingerissen von den durchweg sehr schönen Lämmern.
Gerald hatte allerdings Recht: Ein Schuss Welsh-Mountain-Blut würde
die Wollqualität noch verbessern.
Lucas runzelte die Stirn, als Gwyn erklärte, die Schafe doch
gleich jetzt von einem der Widder aus Wales decken zu lassen.
»Ist es in England für junge Ladys üblich, sich so
... so unverblümt ... über Geschlechtliches zu äußern?«,
fragte er vorsichtig.
»Wie soll ich es denn sonst ausdrücken?« Gwyneira
hatte Schicklichkeit und Schafzucht eigentlich nie miteinander in
Verbindung gebracht. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie eine Frau an
Babys kam, doch beim Decken von Schafen hatte sie mehr als einmal
zugesehen, ohne dass jemand ein Wort darüber verlor.
Lucas errötete leicht. »Nun, dieser ... äh,
gesamte Bereich ist doch wohl kein Gesprächsthema für
Damen?«
Gwyneira zuckte die Schultern. »Meine Schwester Larissa
züchtet Highland-Terrier, meine andere Schwester Rosen. Die
reden den ganzen Tag darüber. Wo ist der Unterschied zu
Schafen?«
»Gwyneira!« Lucas wurde puterrot. »Ach,
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