Im Land Der Weissen Wolke
werden. Außerdem hatte sie keine Lust auf einen Tagesritt im Damensattel. Sie war den Seitsitz nicht mehr gewöhnt, und nach mehreren Stunden würde ihr bestimmt der Rücken schmerzen.
Igraine ging lebhaft vorwärts, und nach gut einer Stunde hatte Gwyneira die Abzweigung zu Helens Farm erreicht. Von hier aus waren es noch zwei Meilen, die sich allerdings schwierig gestalteten. Der Weg war in einem erbärmlichen Zustand. Gwyneira graute es davor, hier ein Gespann entlangzuführen – obendrein mit einem so schweren Wagen, wie Howard ihn fuhr. Kein Wunder, dass die arme Helen erschöpft gewirkt hatte.
Igraine machte der Weg natürlich nichts aus. Die starke Stute war steiniges Gelände gewöhnt, und die häufigen Bachdurchquerungen machten ihr Spaß und erfrischten sie. Für Neuseelands Verhältnisse war es ein heißer Sommertag, und die Stute hatte geschwitzt. Cleo dagegen versuchte immer, möglichst trockenen Fußes durchs Wasser zu kommen. Gwyneira lachte jedes Mal, wenn das nicht gelang, und die kleine Hündin bei einem missglückten Sprung platschend im kühlen Nass landete, woraufhin sie beleidigt zu ihrer Herrin aufsah.
Schließlich kam das Haus in Sicht, obwohl Gwyneira zuerst kaum glauben konnte, dass diese Holzhütte wirklich O’Keefes Farm war. Es musste aber so sein; im Pferch davor graste das Maultier. Beim Anblick von Igraine gab es einen seltsamen Laut von sich, der wie ein Wiehern begann und zu einem Röhren ausartete. Gwyneira schüttelte den Kopf. Merkwürdige Tiere. Sie verstand nicht, warum jemand sie Pferden vorzog.
Sie band die Stute am Zaun an und machte sich auf die Suche nach Helen. Im Stall befand sich nur die Kuh. Dann aber hörte sie den gellenden Schrei einer Frau im Wohnhaus. Es war offensichtlich Helen; sie schrie so entsetzt, dass Gwyn das Blut in den Adern gefror. Erschrocken suchte sie nach einer Waffe, um die Freundin verteidigen zu können, beschloss dann aber, sich mit der Reitpeitsche zu behelfen und Helen sofort zu Hilfe zu eilen.
Ein Angreifer war allerdings nicht zu erkennen. Helen machte eher den Eindruck, als hätte sie gerade harmlos ihre Stube gefegt – bis sie irgendein Anblick vor Schreck erstarren ließ.
»Helen!«, rief Gwyn. »Was ist?«
Helen machte keine Anstalten, sie zu begrüßen oder sich auch nur zu ihr umzusehen. Nach wie vor starrte sie entsetzt auf das Ding in der Ecke.
»Da ... da ... da! Was ist das, um Himmels willen? Hilfe, es springt!« Helen floh in Panik rückwärts und wäre dabei fast über einen Stuhl gestolpert. Gwyneira fing sie auf und wich ebenfalls vor der fetten, glänzenden Schrecke zurück, die jetzt immerhin von ihr weghüpfte. Das Tier war ein Prachtexemplar – bestimmt zehn Zentimeter lang.
»Das ist ein Weta«, erklärte sie gelassen. »Vermutlich ein Boden-Weta, aber es könnte auch ein Baum-Weta sein, das sich verlaufen hat. Auf jeden Fall ist es kein Riesen-Weta, die können nämlich nicht springen ...«
Helen schaute sie an, als wäre sie einer Anstalt entsprungen.
»Und es ist ein Männchen. Nur falls du ihm einen Namen geben willst ...« Gwyneira kicherte. »Mach nicht so ein Gesicht, Helen. Sie sind eklig, aber sie tun dir nichts. Bring das Vieh raus und ...«
»Ka ... kann man es nicht er ... erschlagen?«, fragte Helen zitternd.
Gwyn schüttelte den Kopf. »So gut wie unmöglich. Sie sind nicht totzukriegen. Angeblich nicht mal dann, wenn man sie kocht ... was ich allerdings noch nicht versucht habe. Lucas kann stundenlange Vorträge darüber halten. Es sind sozusagen seine Lieblingstiere. Hast du ein Glas oder so was?« Gwyneira hatte schon einmal zugeschaut, wie Lucas ein Weta fing, und stülpte nun geschickt ein leeres Marmeladenglas über das riesige Insekt. »Erwischt!«, freute sie sich. »Wenn wir das Glas zugeschraubt kriegen, könnte ich es Lucas als Geschenk mitbringen.«
»Mach keine Witze, Gwyn! Ich dachte, er ist ein Gentleman!« Helen fasste sich langsam, starrte aber immer noch mit Faszination und Abscheu auf das gefangene Rieseninsekt.
»Das schließt sein Interesse an Krabbeltieren ja nicht aus«, bemerkte Gwyn. »Männer haben seltsame Vorlieben ...«
»Das kannst du laut sagen.« Helen dachte an Howards nächtliche Vergnügungen. Er ging ihnen fast täglich nach, wenn Helen nicht gerade ihre Regel hatte. Die allerdings hatte nach kurzer Zeit ausgesetzt – das einzig Positive am Eheleben.
»Soll ich einen Tee kochen?«, fragte Helen. »Howard mag Kaffee lieber, aber ich hab Tee für mich
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