Im Land Der Weissen Wolke
Einsatzmöglichkeiten geben. Aber zurzeit war er mindestens ebenso mittellos wie die drei Mädchen. Eher sogar bedürftiger, denn Daphne und die Zwillinge hatten immerhin drei Dollar verdient – von denen die geldgierige Jolanda ihnen wahrscheinlich höchstens einen lassen würde.
»Tut mir Leid«, sagte Lucas deshalb nur. »Ich wolle euch nicht zu nahe treten. Hört mal, ich ... ich brauche ein Schlaflager für diese Nacht. Ich kann nicht hier bleiben. So einladend diese Zimmer hier wirken ...« Mit einer Handbewegung umfasste er Miss Jolandas Stundenhotel, woraufhin Daphne wieder glockenhell lachte und auch die Zwillinge verhalten kicherten. »Aber das wird mir zu teuer. Gibt es vielleicht einen Platz im Stall oder etwas Ähnliches?«
»Du willst nicht zurück auf die Seehundbänke?«, fragte Daphne verwundert.
Lucas schüttelte den Kopf. »Ich suche einen Job, in dem nicht so viel Blut fließt. Man sagte mir, die Zimmerleute stellen Männer ein.«
Daphne warf einen Blick auf Lucas’ schmale Hände, die zwar längst nicht mehr so gepflegt waren wie vor einem Monat, aber auch noch nicht so schwielig und schartig wie die Normans oder Coppers.
»Dann pass bloß auf, dass du dir nicht zu oft auf die Finger haust«, sagte sie. »Hammer auf Finger gibt mehr Blut als Knüppel auf Seehund – dein Fell ist schlicht weniger wert, Kumpel!«
Lucas musste lachen. »Ich werde schon auf mich aufpassen. Sofern die Flöhe mir nicht vorher das letzte Blut aussaugen. Täusche ich mich, oder kribbelt es hier auch ein wenig?« Er kratzte sich ungeniert an der Schulter – was ein Gentleman natürlich nicht tat, aber Gentlemen plagten sich wohl auch nicht allzu oft mit Insektenstichen herum.
Daphne zuckte die Schultern. »Muss aus dem Salon sein. Zimmer eins ist sauber, das putzen wir. Würde schließlich stören, wenn die Zwillinge pustelübersät ihre Schau abzögen. Deshalb lassen wir hier auch keinen von den dreckigen Kerlen schlafen, egal was sie zahlen. Am besten, du versuchst es im Mietstall. Da schlafen die Jungs oft, die auf der Durchreise sind. Und David hält’s in Ordnung. Er wird dir gefallen, denke ich. Aber verdirb ihn nicht!«
Mit diesen Worten verabschiedete Daphne ihren Besucher und scheuchte die Zwillinge aus dem Zimmer. Lucas blieb noch ein wenig. Schließlich erwarteten die Männer draußen ja wohl, dass er es nackt mit den Mädchen getrieben hatte und nun etwas Zeit zum Ankleiden brauchte. Als er schließlich wieder in den Salon trat, schallten ihm Hochrufe aus etlichen trunkenen Kehlen entgegen. Norman hob das Glas und prostete ihm zu.
»Da habt ihr’s! Unser Luke! Treibt’s mit den drei besten Mädels und sieht hinterher gleich wieder aus wie aus ’m Ei gepellt! Hab ich da mal irgendwelche dunklen Anspielungen gehört? Entschuldigt euch schleunigst, Jungs, bevor er eure Mädchen auch noch vernascht!«
10
Lucas ließ sich noch kurze Zeit feiern und verzog sich dann aus dem Pub in den Mietstall. Daphne hatte nicht zu viel versprochen. Der Betrieb machte einen ordentlichen Eindruck. Natürlich roch es nach Pferd, aber die Stallgasse war sauber gefegt, die Pferde standen in freigebig eingestreuten Boxen, und die Sättel und Zaumzeuge in der Sattelkammer waren alt, aber gut gepflegt. Eine einzige Stalllaterne tauchte die Anlage in schwaches Licht – genug, um sich zu orientieren und auch nachts nach den Pferden sehen zu können, aber nicht zu hell, um die Tiere zu stören.
Lucas sah sich nach einem Schlafplatz um, aber er schien heute der einzige Übernachtungsgast zu sein. Er überlegte schon, sein Lager einfach irgendwo aufzuschlagen, ohne groß zu fragen. Aber dann tönte eine helle Stimme, eher furchtsam als fordernd durch den dunklen Stall: »Wer da? Sag deinen Namen und was du willst, Fremder!«
Lucas hob gespielt ängstlich die Arme. »Luke ... äh ... Denward. Ich hab keine bösen Absichten, such nur einen Platz zum Schlafen. Und dieses Mädchen, Miss Daphne, sie meinte ...«
»Wir lassen Leute hier schlafen, die ihr Pferd eingestellt haben«, antwortete die Stimme, wobei sie näher kam. Und schließlich zeigte sich auch ihr Besitzer. Ein blonder, vielleicht sechzehnjähriger Junge streckte den Kopf über eine Boxwand. »Aber Sie haben kein Pferd!«
Lucas nickte. »Das ist richtig. Aber ich könnte trotzdem ein paar Cent zahlen. Und ich brauch auch keine ganze Box. Ein Eckchen würde reichen.«
Der Junge nickte. »Wie kommen Sie denn her, ohne Pferd?«, fragte er dann neugierig und
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