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Im Land Der Weissen Wolke

Im Land Der Weissen Wolke

Titel: Im Land Der Weissen Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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zeigte sich nun in voller Größe. Er war hochgewachsen, aber ein Schlacks, und sein Gesicht wirkte noch kindlich. Lucas sah in runde, helle Augen, deren Farbe er im Dämmerlicht nicht ausmachen konnte. Aber der Junge schien offen und freundlich.
    »Ich komme von den Seehundbänken«, sagte Lucas, als wäre dies eine Erklärung, wie man ohne Reittier über die Alpen gelangte. Aber vielleicht schloss der Junge ja von selbst darauf, dass sein Besucher per Schiff angereist sein musste. Lucas hoffte, dass ihm dabei nicht auch gleich der Deserteur von der Pretty Peg einfiel.
    »Haben Sie Seehunde gejagt? Wollte ich auch mal, man verdient dabei viel Geld. Aber ich konnte nicht ... wie die Viecher einen anschauen ...«
    Lucas wurde warm ums Herz.
    »Genau deshalb suche ich auch ’nen anderen Job«, verriet er dem Jungen.
    Der junge Bursche nickte. »Sie können bei den Zimmerleuten helfen oder bei den Holzfällern. Arbeit gibt’s genug. Ich nehm Sie Montag mit. Ich bin auch auf dem Bau.«
    »Ich dachte, du wärst hier Stalljunge«, wunderte sich Lucas. »Wie heißt du? David?«
    Der Junge zuckte die Schultern. »So nennen sie mich. Eigentlich heiße ich Steinbjörn. Steinbjörn Sigleifson. Kann hier aber kein Mensch aussprechen. Dann hat mich das Mädchen, Daphne, einfach David genannt. Nach David Copperfield. Ich glaub, der hat mal ein Buch geschrieben.«
    Lucas lächelte und wunderte sich wieder einmal über Daphne. Ein Barmädchen, das Dickens las?
    »Und wo nennt man seine Kinder ›Steinbjörn Sigleifson‹?«, erkundigte sich Lucas. David hatte ihn inzwischen in einen Verschlag geführt, den er sich wohnlich eingerichtet hatte. Strohballen dienten als Tische und Sitzgelegenheiten, und Heu war zu einem Lager aufgeworfen. Weiteres Heu lag in einer Ecke, und David wies Lucas an, sich dort für sein Bett zu bedienen.
    »Auf Island«, sagte er dann und half Lucas tatkräftig. »Da komm ich her. Mein Vater war Walfänger. Aber meine Mutter wollte immer weg, sie war Irin. Am liebsten wäre sie zurück auf ihre Insel gegangen, aber dann ist ihre Familie nach Neuseeland ausgewandert, und sie wollte unbedingt auch herkommen, denn sie konnte das Wetter in Island nicht mehr vertragen, immer dunkel, immer kalt ... Dann wurde sie krank, und auf der Schiffsreise hierher ist sie gestorben. An einem sonnigen Tag. Das war ihr wichtig, glaube ich ...« David wischte sich verstohlen über die Augen.
    »Aber dein Vater war noch bei dir?«, fragte Lucas freundlich und breitete seinen Schlafsack aus.
    David nickte. »Aber nicht lange. Als er hörte, dass sie hier Wale fangen, war er Feuer und Flamme. Wir sind dann von Christchurch zur Westcoast, und gleich auf dem nächsten Walfänger hat er angeheuert. Wollte mich als Schiffsjungen mitnehmen, aber sie brauchten keinen. Das war’s dann.«
    »Er hat dich einfach allein gelassen?« Lucas war entsetzt. »Wie alt warst du? Fünfzehn?«
    »Vierzehn«, meinte David gelassen. »Alt genug, um allein zu überleben, meinte Dad. Dabei konnte ich nicht mal Englisch. Aber wie Sie sehen, er hatte Recht. Ich bin hier, ich lebe – und ich glaub nicht, dass ich mich zum Waljäger geeignet hätte. Mir wurde jedes Mal schlecht, wenn mein Vater nach Hause kam und nach Tran roch.«
    Während die beiden es sich in ihren Schlafsäcken gemütlich machten, erzählte der Junge freimütig von seinen Erlebnissen unter den harten Männern der Westcoast. Anscheinend fühlte er sich unter ihnen ebenso wenig zu Hause wie Lucas und war ganz froh gewesen, hier einen Job als Stallbursche zu finden. Er hielt die Ställe in Ordnung und durfte dafür darin schlafen. Tagsüber arbeitete er auf dem Bau.
    »Ich möchte gern Zimmermann werden und Häuser bauen«, gestand er Lucas schließlich.
    Der lächelte. »Um Häuser zu bauen müsstest du Architekt werden, Dave. Aber das ist nicht einfach.«
    Dave nickte. »Ich weiß. Es kostet auch Geld. Man muss lange zur Schule gehen. Aber ich bin nicht dumm, ich kann sogar lesen.«
    Lucas beschloss, ihm das nächste Exemplar des Romans David Copperfield zu schenken, das ihm in die Hände fiel. Er fühlte sich unerklärlich glücklich, als die beiden sich schließlich Gute Nacht sagten und in ihren Kojen zusammenrollten. Lucas hörte auf die Schlafgeräusche des Jungen, sein gleichmäßiges Atmen, und dachte an seine trotz der Schlaksigkeit geschmeidigen Bewegungen, die lebhafte, helle Stimme. Einen Knaben wie diesen hätte er lieben können ...

    David hielt Wort und stellte Lucas

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