Im Land Der Weissen Wolke
Tiere wegtreiben, ohne dass es unmittelbar auffiel. Wenn James tatsächlich einen noch unbekannten Zufluchtsort und vor allem ein Vertriebssystem für das gestohlene Vieh gefunden hatte, würden die Schaf-Barone ihn nie finden – höchstens durch Zufall.
Dennoch boten McKenzies Aktivitäten immer Gesprächsstoff und willkommene Anlässe, sich zu Viehzüchtertreffen oder gemeinsamen Expeditionen ins Hochland zusammenzutun. Auch diesmal würde man wieder viel reden, aber wenig erreichen. Gwyneira war froh, dass sie selbst nie zur Teilnahme aufgefordert wurde. Sie leitete zwar de facto die Schafzucht auf Kiward Station, aber ernst genommen wurde nur Gerald. Sie atmete auf, als er vom Hof ritt, im Schlepptau erstaunlicherweise Paul. Der Junge und sein Großvater waren sich seit der Geschichte mit Ruben und Fleurette näher gekommen. Anscheinend begriff Gerald endlich, dass es nicht reichte, einen Erben zu zeugen. Der zukünftige Besitzer von Kiward Station musste auch in die Arbeit auf der Farm eingeführt werden – und in die Gesellschaft von seinesgleichen. Nun ritt Paul stolz neben Gerald nach Christchurch, und Fleurette konnte sich endlich ein bisschen entspannen. Nach wie vor schrieb Gerald ihr streng vor, wohin sie gehen und wann sie nach Hause zu kommen hatte; Paul beobachtete Fleur dabei und verriet seinem Großvater jeden kleinsten Verstoß gegen seine Anordnungen. Nach den ersten paar Schimpftiraden trug Fleurette das zwar mit Fassung, aber belastend war es doch. Immerhin hatte das Mädchen viel Freude an seinem neuen Pferd. Gwyneira hatte ihr Igraines letzte Tochter, Niniane, zum Zureiten anvertraut. Die Vierjährige glich in Temperament und Aussehen ihrer Mutter – und wenn Gwyn ihre Tochter auf Ninianes Rücken über die Weiden stieben sah, überkam sie wieder das ungute Gefühl wie vor kurzem im Salon: Auch Gerald musste meinen, hier die junge Gwyneira vor sich zu sehen. So hübsch, so wild und so völlig außer seiner Reichweite, wie ein Mädchen es nur sein konnte.
Seine Reaktion darauf nährte ihre Befürchtungen: Er zeigte sich schlechter gelaunt als sonst, schien eine unerklärliche Wut auf jeden zu hegen, der ihm begegnete, und konsumierte noch mehr Whiskey als sonst. Lediglich Paul schien ihn in diesen Nächten besänftigen zu können.
Gwyn wäre das Blut in den Adern gefroren, hätte sie gewusst, was die beiden dann im Herrenzimmer redeten.
Das Ganze begann stets damit, dass Gerald Paul aufforderte, ihm von der Schule und seinen Abenteuern im Busch zu erzählen, und endete damit, dass der Junge von Fleur sprach – die er natürlich keineswegs als den bezaubernd unschuldigen Wildfang schilderte, der Gwyn damals gewesen war, sondern als verderbt, verräterisch und böse. Gerald konnte seine verbotenen Fantasien rund um seine Enkelin leichter ertragen, wenn sie sich um ein solch kleines Biest rangelten – aber er wusste natürlich, dass er das Mädchen schleunigst loswerden musste.
In Christchurch schien sich eine Gelegenheit dazu zu ergeben. Als Gerald und Paul von der Viehzüchterversammlung zurückkehrten, wurden sie von Reginald Beasley begleitet.
Gwyneira begrüßte den alten Freund ihrer Familie freundlich und kondolierte ihm noch einmal zum Tod seiner Frau. Mrs. Beasley war Ende des letzten Jahres plötzlich verschieden – ein Schlaganfall in ihrem geliebten Rosengarten. Gwyneira fand im Grunde, die alte Dame hätte keinen schöneren Tod haben können, was natürlich nichts daran änderte, dass Mr. Beasley sie schmerzlich vermisste. Gwyn bat Moana, ein besonders gutes Essen vorzubereiten, und suchte erstklassigen Wein heraus. Beasley war als Feinschmecker und Weinkenner bekannt, und er strahlte denn auch über das ganze runde und rote Gesicht, als Witi die Flasche bei Tisch entkorkte.
»Ich habe ebenfalls gerade eine Sendung bester Weine aus Kapstadt bekommen«, erklärte er und schien sich dabei besonders an Fleurette zu wenden. »Darunter sehr leichte, die Damen werden sie lieben. Was bevorzugen Sie, Miss Fleur? Weißwein oder Rotwein?«
Fleurette hatte sich darüber nie besondere Gedanken gemacht. Sie trank selten Wein, und wenn, dann den, der gerade auf den Tisch kam. Doch Helen hatte ihr selbstverständlich vermittelt, sich wie eine Dame zu benehmen.
»Das kommt sehr auf die Sorte an, Mr. Beasley«, erwiderte sie höflich. »Rotweine sind oft sehr schwer, und Weißweine haben mitunter viel Säure. Ich würde es wohl einfach Ihnen überlassen, das richtige Getränk
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