Im Land Der Weissen Wolke
gebürstet. Das zu entwirren hätte wahrscheinlich Stunden gedauert. Gewöhnlich pflegte sie es abends zu kämmen und zu flechten, aber gestern hatte sie nicht die Energie dazu aufgebracht. Nun wallte es ziemlich wild um ihr schmales Gesicht, doch Ruben O’Keefe erschien sie dennoch als das schönste Mädchen, das er jemals gesehen hatte. Fleurette dagegen war eher entsetzt vom Anblick ihres Freundes. Der Junge lag mehr als er saß auf einem Stapel Heu. Nach wie vor schmerzte ihn jede Bewegung. Sein Gesicht war verschwollen, ein Auge ganz geschlossen, und die Platzwunden nässten noch.
»Oh Gott, Ruben! War das mein Großvater?« Fleurette wollte ihn umarmen, doch Ruben wehrte sie ab.
»Vorsicht«, ächzte er. »Meine Rippen ... ich weiß nicht, ob sie gebrochen oder nur geprellt sind ... jedenfalls tut es höllisch weh.«
Fleurette umfasste ihn sanfter. Sie glitt neben ihn und bettete sein zerschundenes Gesicht an ihre Schulter.
»Der Teufel soll ihn holen!«, schimpfte sie. »Von wegen, er bringt niemanden um! Bei dir wäre es ihm fast gelungen!«
Ruben schüttelte den Kopf. »Es war nicht Mr. Warden. Es war mein Vater. Und beinahe hätten sie’s in schönster Eintracht zusammen gemacht! Die beiden sind sich ja spinnefeind, aber was uns angeht, besteht völlige Übereinstimmung. Ich gehe weg, Fleur. Ich halte das nicht mehr aus!«
Fleurette sah ihn fassungslos an. »Du gehst weg? Du verlässt mich?«
»Soll ich hier warten, bis sie uns beide umbringen? Wir können uns doch nicht in alle Ewigkeit heimlich treffen – erst recht nicht mit dem kleinen Spitzel, den du da im Haus hast. Es war doch Paul, der uns verraten hat, oder?«
Fleur nickte. »Und er wird’s immer wieder tun. Aber du ... du kannst nicht ohne mich weggehen! Ich komme mit!« Entschlossen straffte sie sich und schien in Gedanken bereits ihre Sachen zu packen. »Du wartest hier, ich brauche nicht viel. In einer Stunde können wir fort sein!«
»Ach, Fleur, das geht doch nicht. Aber ich verlasse dich auch nicht. Ich denke in jeder Minute, jeder Sekunde an dich. Ich liebe dich. Aber ich kann dich auf keinen Fall mit nach Otago nehmen ...« Ruben streichelte sie mit ungeschickten Bewegungen, während Fleur fieberhaft nachdachte. Wenn sie mit ihm fliehen wollte, lief das auf einen Gewaltritt hinaus – Gerald würde ihnen zweifellos einen Suchtrupp hinterherschicken, sobald er ihre Abwesenheit bemerkte. Doch Ruben konnte in seinem augenblicklichen Zustand auf keinen Fall schnell reiten ... und was redete er da überhaupt von Otago?
»Ich denke, du willst nach Dunedin?«, erkundigte sie sich und küsste seine Stirn.
»Ich hab’s mir anders überlegt«, erklärte Ruben. »Wir haben immer gedacht, dein Großvater erlaubt uns zu heiraten, wenn ich erst Anwalt bin. Aber er wird nie die Erlaubnis geben, nach gestern Abend ist mir das endgültig klar. Wenn es mit uns etwas werden soll, muss ich Geld verdienen. Nicht ein bisschen, sondern ein Vermögen. Und in Otago wurde Gold gefunden ...«
»Du willst es mit Goldschürfen versuchen?«, fragte Fleur überrascht. »Aber ... wer sagt dir, dass du etwas findest?«
Im Stillen empfand Ruben das als eine gute Frage, denn er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er die Goldsuche anfangen sollte. Aber zum Teufel, das hatten andere doch auch geschafft!
»In der Gegend um Queenstown findet jeder Gold«, behauptete er. »Da gibt’s Nuggets, so groß wie Fingernägel.«
»Und die liegen einfach so in der Gegend herum?«, meinte Fleurette misstrauisch. »Brauchst du nicht einen Claim? Eine Ausrüstung? Hast du Geld, Ruben?«
Ruben nickte. »Ein bisschen. Ein paar Ersparnisse. Onkel George hat mich bezahlt, als ich letztes Jahr in seiner Firma ausgeholfen habe, und auch fürs Dolmetschen bei den Maoris, wenn Reti nicht zur Verfügung stand. Es ist natürlich nicht viel.«
»Ich hab gar nichts«, sagte Fleurette bekümmert. »Sonst hätte ich’s dir gegeben. Aber was ist mit einem Pferd? Wie willst du hinkommen, zum Lake Wakatipu?«
»Ich hab das Maultier von meiner Mutter«, erklärte Ruben.
Fleurette schlug die Augen gen Himmel. »Nepumuk? Du willst mit dem alten Nepumuk über die Berge? Wie alt ist der jetzt? Fünfundzwanzig? Das ist völlig unmöglich, Ruben, nimm eins von unseren Pferden!«
»Damit der alte Warden mich als Pferdedieb jagen lässt?«, fragte Ruben bitter.
Fleurette schüttelte den Kopf. »Nimm Minette. Sie ist klein, aber kräftig. Und sie gehört mir. Keiner kann mir verbieten,
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