Im Land Der Weissen Wolke
Schließlich sah der fremde Hirte nicht gefährlich aus, und solange sie auf dem Pferd saß, konnte er ihr auch kaum etwas anhaben. Sein schwer beladenes Maultier taugte bestimmt nicht zu einer Verfolgung.
Gracie und Friday hatten sich inzwischen darangemacht, die Schafe zusammenzutreiben. Sie arbeiteten dabei so geschickt und selbstverständlich im Team, als hätten sie nie etwas anderes getan.
Der Mann stand wie zur Salzsäule erstarrt, als er Fleurette auf ihrer Stute heransprengen sah.
Fleur blickte in ein wettergegerbtes, kantiges Gesicht mit üppigem braunem Bart und braunem Haar, in das sich bereits graue Strähnen mischten. Der Mann war kräftig, dabei aber schlank, seine Kleidung abgetragen, der Packsattel auf dem Maultier verschlissen, aber ordentlich und gepflegt. Doch die braunen Augen des Hirten blickten Fleurette an, als habe er einen Geist gesehen.
»Sie kann es nicht sein«, sagte er leise, als sie ihr Pferd vor ihm verhielt. »Das ist nicht möglich ... und der Hund kann es auch nicht sein. Sie ... sie muss jetzt bald zwanzig Jahre alt sein. Gott im Himmel ...« Der Mann schien um Fassung zu ringen. Wie haltsuchend griff er nach seinem Sattel.
Fleur zuckte die Schultern. »Ich weiß zwar nicht, wer ich nicht sein soll, Sir, aber Sie haben einen schönen Hund.«
Der Mann schien die Fassung wiederzuerlangen. Er atmete tief ein und aus, blickte Fleur aber immer noch ungläubig an.
»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben«, sagte er jetzt ein wenig flüssiger. »Ist ... ist sie ausgebildet? Als Sheepdog, meine ich?«
Fleur hatte nicht das Gefühl, als interessiere der Mann sich tatsächlich für Gracie; es schien, als wollte er Zeit gewinnen, während es hinter seiner Stirn fieberhaft arbeitete. Doch Fleur nickte und schaute sich nach einer geeigneten Aufgabe um, die Hunde zu erproben. Dann lächelte sie und gab Gracie einen Befehl. Die kleine Hündin flitzte los.
»Der große Widder da rechts. Sie wird ihn zwischen den Felsen dort durchtreiben.« Fleurette näherte sich den Felsen. Gracie hatte den Widder bereits separiert und wartete auf weitere Anweisungen. Friday lag hinter ihr auf der Lauer, jederzeit bereit, der anderen Hündin beizuspringen.
Die aber brauchte keine Hilfe. Der Widder trabte gelassen zwischen den Steinen hindurch.
Der Mann nickte und lächelte jetzt ebenfalls. Er schien deutlich entspannter. Offenbar war er zu einem Ergebnis gekommen.
»Das Mutterschaf da hinten«, sagte er, wies auf ein rundliches Tier und pfiff Friday. Woraufhin die kleine Hündin pfeilschnell die Herde umrundete, das angegebene Schaf heraustrieb und auf die Felsen zusteuerte. Doch das Mutterschaf war weniger fügsam als Gracies Widder. Friday brauchte drei Anläufe, bis sie es glücklich zwischen den Felsen durchgetrieben hatte.
Fleurette lächelte zufrieden.
»Gewonnen!«, erklärte sie.
Die Augen des Mannes leuchteten auf, und Fleur meinte fast etwas wie Zärtlichkeit darin zu erkennen.
»Sie haben übrigens schöne Schafe«, sprach sie hastig weiter. »Ich kenne mich da aus. Ich bin ... von einer Schaffarm.«
Der Mann nickte wieder. »Sie sind Fleurette Warden von Kiward Station«, sagte er dann. »Herrgott, im ersten Moment dachte ich schon, ich sehe Gespenster! Gwyneira, Cleo, Igraine ... Sie sind Ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten! Und Sie sitzen genauso elegant zu Pferde. Aber das war vorauszusehen. Ich weiß noch, wie Sie als Kind gequengelt haben, bis ich Sie aufsitzen ließ.« Er lächelte. »Aber Sie werden sich nicht an mich erinnern. Wenn ich mich vorstellen darf ... James McKenzie.«
Fleurette starrte ihn jetzt ebenfalls an, bis sie verlegen den Blick senkte. Was erwartete der Mann von ihr? Sollte sie so tun, als habe sie nie von seinem Ruf als Viehdieb gehört? Ganz zu schweigen von der immer noch unfassbaren Tatsache, dass dieser Mann ihr Vater war?
»Ich ... hören Sie, Sie dürfen nicht denken, dass ich ... dass ich hergekommen bin, weil ich Sie verhaften wollte oder so ...«, setzte sie schließlich an. »Ich ...«
McKenzie lachte dröhnend, nahm sich dann aber zusammen und antwortete der erwachsenen Fleur genauso ernst wie damals dem vierjährigen Mädchen. »Das hätte ich auch niemals von Ihnen erwartet, Miss Fleur. Sie hatten schon immer ein Faible für Freisassen. Waren Sie nicht eine Zeit lang mit einem gewissen Ruben Hood verbandelt?« Sie sah den Schalk in seinen Augen aufblitzen und erkannte ihn plötzlich wieder. Als Kind hatte sie ihn Mr. James
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