Im Land Der Weissen Wolke
das Fleisch über Bord werfen muss.«
Wie sich herausgestellt hatte, dienten die Schweine und das Geflügel als lebender Proviant für die Passagiere der ersten Klasse, und die Kühe wurden tatsächlich täglich gemolken. Die Reisenden auf dem Zwischendeck bekamen von all diesen guten Dingen allerdings nichts zu sehen – bis Daphne einen Jungen dabei ertappte, dass er nachts heimlich molk. Ohne die geringsten Skrupel verpfiff sie ihn, jedoch nicht, ohne ihn vorher zu beobachten und anschließend die Melkbewegungen nachzuahmen. Seitdem gab es frische Milch für die Mädchen. Und Helen tat so, als merke sie es nicht.
Daphne stimmte Gwyneiras Vorschlag denn auch gleich begeistert zu. Sie hatte beim Melken und Eierstehlen längst bemerkt, um wie viel wärmer es in den improvisierten Ställen unter Deck war. Die großen Körper der Rinder und Pferde spendeten tröstliche Wärme, und das Stroh war weich und oft trockener als die Matratzen ihrer Kojen. Helen wollte sich zunächst dagegen sperren, gab dann aber nach. Insgesamt hielt sie drei Wochen Unterricht im Stall ab – bis der Proviantmeister sie erwischte, des Diebstahls von Lebensmitteln verdächtigte und schimpfend hinauswies. Inzwischen hatte die Dublin den Golf von Biscaya erreicht. Die See wurde ruhiger, das Wetter warm. Die Zwischendeckpassagiere trugen ihre klammen Kleider und das Bettzeug aufatmend hinaus, um es in der Sonne zu trocknen. Sie priesen Gott für die Wärme, doch die Besatzung warnte sie: Schon bald würden sie den Indischen Ozean erreichen und die glühende Hitze verfluchen.
6
Nun, da der erste, beschwerliche Teil der Reise vorbei war, regte sich das gesellschaftliche Leben an Bord der Dublin .
Der Schiffsarzt nahm seine Arbeit als Lehrer endlich auf, sodass die Kinder der Auswanderer etwas anderes zu tun hatten als einander, ihre Eltern und vor allem Helens Mädchen zu ärgern. Letztere konnten im Unterricht glänzen, und Helen war stolz auf sie. Sie hatte zunächst gehofft, durch die Schulstunden etwas Zeit für sich selbst zu gewinnen, aber dann zog sie es doch vor, ihre Zöglinge dabei zu beaufsichtigen. Schließlich kamen die Klatschbasen Mary und Laurie schon am zweiten Tag mit besorgniserregenden Neuigkeiten aus der Klasse zurück.
»Daphne hat Jamie O’Hara geküsst!«, berichtete Mary atemlos.
»Und Tommy Sheridan wollte Elizabeth anfassen, aber sie hat gesagt, dass sie auf einen Prinzen wartet, und dann haben alle gelacht«, fügte Laurie hinzu.
Helen nahm sich daraufhin zunächst Daphne vor, die kein bisschen Schuldbewusstsein zeigte. »Jamie hat mir dafür ein Stück gute Wurst gegeben«, erklärte sie gelassen. »Die haben sie noch von zu Hause mitgebracht. Und es ging auch ganz schnell, richtig küssen kann der gar nicht!«
Helen war entsetzt ob Daphnes offensichtlich tiefer greifender Kenntnisse. Sie rügte sie streng, wusste aber, dass sie damit nichts erreichte. Daphnes Sinn für Moral und Schicklichkeit konnte allenfalls langfristig geschärft werden. Vorerst half nur Kontrolle. Also wohnte Helen dem Unterricht der Mädchen zunächst bei und übernahm dann selbst immer mehr Pflichten in der Schule und bei der Vorbereitung der Sonntagsmesse. Der Schiffsarzt war ihr dankbar dafür; ihm lag weder das Amt des Lehrers noch das des Predigers.
Nachts erklang nun fast täglich Musik auf dem Zwischendeck. Die Menschen hatten sich mit dem Verlust der alten Heimat abgefunden – oder fanden zumindest Trost im Singen altenglischer, irischer und schottischer Lieder. Mancher hatte auch ein Instrument mit an Bord gebracht; man hörte Fiedeln, Flöten und Harmonikas. Freitags und samstags wurde getanzt, und wieder musste Helen vor allem Daphne im Zaum halten. Sie erlaubte den älteren Mädchen ja gern, der Musik zu lauschen und auch eine Stunde beim Tanz zuzusehen. Aber dann sollten sie ins Bett, wozu Dorothy sich auch brav bereit fand – während Daphne Ausflüchte fand oder sogar versuchte, sich später noch mal wegzuschleichen, wenn sie Helen schlafend wähnte.
Auf dem Oberdeck verliefen die gesellschaftlichen Aktivitäten kultivierter. Man veranstaltete Konzerte und Deckspiele, und natürlich wurden die Abendmahlzeiten im Speisesaal festlich zelebriert. Gerald Warden und Gwyneira teilten die Tafel mit einem Londoner Ehepaar, dessen jüngerer Sohn in einer Garnison in Christchurch stationiert war und sich nun mit dem Gedanken trug, sich dort endgültig anzusiedeln. Der junge Mann hatte die Absicht, zu heiraten und dann in den
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