Im Land Der Weissen Wolke
Gwyneira leichthin. »Und meiner hat mir noch nicht mal geschrieben!«
»Sie auch?«, wunderte sich Helen. »Sie folgen auch der Brautwerbung eines Unbekannten?«
Gwyn zuckte die Schultern. »Na ja, unbekannt ist er nicht. Er heißt Lucas Warden, und sein Vater hat für ihn formvollendet um meine Hand angehalten ...« Sie biss sich auf die Lippen. »Ziemlich formvollendet«, berichtigte sie sich dann. »So gesehen geht das alles in Ordnung. Aber was Lucas betrifft ... ich hoffe, er will überhaupt heiraten. Sein Vater hat mir nicht verraten, ob er ihn vorher gefragt hat ...«
Helen lachte, doch Gwyneira meinte es beinahe ernst. Sie hatte Gerald Warden in den letzten Wochen nicht als einen Mann kennen gelernt, der allzu viel fragte. Der Schaf-Baron traf seine Entscheidungen schnell und allein, und auf Einmischungen anderer konnte er ziemlich unwirsch reagieren. Auf diese Weise war es ihm gelungen, in den Wochen seines Europaaufenthaltes ein enormes organisatorisches Pensum zu erledigen. Vom Kauf der Schafe über diverse Vereinbarungen mit Wollimporteuren, Besprechungen mit Architekten und Spezialisten für den Brunnenbau bis zur Brautwerbung für seinen Sohn erledigte er alles kühl und mit atemberaubender Geschwindigkeit. Eigentlich gefiel Gwyneira sein entschlossenes Vorgehen, aber manchmal machte es ihr ein wenig Angst. Bei aller Verbindlichkeit hatte Warden eine aufbrausende Ader, und bei geschäftlichen Verhandlungen zeigte er bisweilen eine Art von Verschlagenheit, die vor allem Lord Silkham nicht behagte. Nach Silkhams Meinung hatte der Neuseeländer den Züchter des kleinen Hengstes Madoc nach allen Regeln der Kunst übers Ohr gehauen – und ob es bei dem Kartenspiel um Gwyneiras Hand so ganz mit rechten Dingen zugegangen war, blieb auch fraglich. Gwyneira fragte sich manchmal, wie Lucas zu all dem stand. War er so tatkräftig wie sein Vater? Verwaltete er die Farm zurzeit genauso effizient und kompromisslos? Oder zielte Geralds mitunter vorschnelles Handeln auch darauf, den Aufenthalt in Europa und damit Lucas’ Alleinherrschaft auf Kiward Station so weit als möglich abzukürzen?
Jetzt erzählte sie Helen jedenfalls eine leicht abgeschwächte Fassung von Geralds geschäftlichen Beziehungen zu ihrer Familie, die dann zu der Brautwerbung geführt hatten. »Ich weiß, dass ich auf eine florierende Farm heirate, mit vierhundert Hektar Land und einem Schafbestand von fünftausend Tieren, der noch weiter anwachsen soll«, endete sie schließlich. »Ich weiß, dass mein Schwiegervater gesellschaftliche und geschäftliche Beziehungen zu den besten Familien Neuseelands unterhält. Er ist offensichtlich reich, sonst könnte er sich diese Reise und das alles nicht leisten. Aber über meinen künftigen Gatten weiß ich nichts!«
Helen hörte aufmerksam zu, doch fiel es ihr schwer, Gwyneira zu bedauern. Tatsächlich wurde Helen eben schmerzhaft bewusst, dass ihre neue Freundin deutlich besser über ihr künftiges Leben informiert war als sie selbst. Ihr hatte Howard nichts über die Größe seiner Farm berichtet, nichts über seinen Viehbestand und seine gesellschaftlichen Kontakte. Über seine finanziellen Verhältnisse wusste sie nur, dass er zwar schuldenfrei war, sich größere Ausgaben wie das Geld für eine Europareise – und sei es nur auf dem Zwischendeck – aber nicht ohne weiteres leisten konnte. Immerhin schrieb er wunderschöne Briefe! Wieder einmal errötend, nestelte Helen die schon völlig zerlesenen Schriftstücke aus der Tasche und schob sie Gwyneira hinüber. Die beiden Frauen hatten inzwischen auf dem Rand des Rettungsbootes Platz genommen. Gwyneira las begierig.
»Tjaaa, schreiben kann er ...«, meinte sie schließlich verhalten und faltete die Briefe zusammen.
»Finden Sie daran etwas merkwürdig?«, erkundigte Helen sich ängstlich. »Gefallen Ihnen die Briefe nicht?«
Gwyneira zuckte die Schultern. »Mir müssen sie ja nicht gefallen. Wenn ich ehrlich sein soll, finde ich sie ein bisschen schwülstig. Aber ...«
»Aber?«, drängte Helen.
»Also, was ich komisch finde ... ich hätte nie gedacht, dass ein Farmer so schöne Briefe schreibt.« Gwyneira wand sich. Sie fand die Briefe mehr als seltsam. Natürlich mochte Howard O’Keefe hochgebildet sein. Auch ihr eigener Vater war schließlich Gentleman und Farmer zugleich; im ländlichen England und in Wales war das nicht ungewöhnlich. Aber bei aller Schulbildung hätte Lord Silkham niemals so übertriebene Formulierungen gebraucht wie
Weitere Kostenlose Bücher