Im Land Der Weissen Wolke
Jamie bot sich ritterlich an, Elizabeth’ Habe zusätzlich zu der seinen zu schultern. Seine Mutter untersagte ihm das allerdings streng – die O’Haras transportierten ihren gesamten Hausrat über die Berge, und jeder hatte schon mehr als genug zu schleppen. In einem solchen Fall, so befand die resolute Frau, war Höflichkeit überflüssiger Luxus.
Nach den ersten Meilen in der Sonne mochte Jamie das wohl ähnlich sehen. Die Nebel hatten sich verzogen, wie Gerald es vorausgesagt hatte, und nun lag der Bridle Path in warmer Frühlingssonne. Für die Einwanderer war das nach wie vor schwer fassbar. Zu Hause in England hätte man jetzt mit den ersten Herbststürmen rechnen müssen, aber hier in Neuseeland begann eben das Gras zu sprießen und die Sonne höher zu steigen. Eigentlich waren die Temperaturen sehr angenehm, doch der weite Aufstieg in den warmen Reisekleidern war schweißtreibend, denn die Auswanderer hatten oft mehrere Kleidungsstücke übereinander gezogen, um weniger schleppen zu müssen. Selbst die Männer kamen schnell aus der Puste. Drei untätige Monate auf See hatten auch den stärksten Arbeitern die Kondition geraubt. Dabei wurde der Weg nicht nur zunehmend steiler, sondern auch gefährlicher. Die Mädchen weinten vor Angst, als sie an einem Kraterrand entlangsteigen mussten. Mary und Laurie klammerten sich dabei so verzweifelt aneinander, dass sie gerade dadurch absturzgefährdet waren. Rosemary hing an Helens Rockzipfel und versteckte den Kopf in den Falten ihres Reisekostüms, wenn sich der Abgrund allzu gefährlich auftat. Helen selbst hatte den Sonnenschirm längst zusammengeklappt. Sie brauchte ihn als Wanderstock – und sie hatte auch keine Energie mehr, ihn artig und damenhaft über der Schulter zu tragen. Ihr Teint war ihr heute egal.
Nach einer Stunde Marsch waren die Reisenden müde und durstig, hatten aber gerade mal zwei Meilen zurückgelegt.
»Oben auf dem Berg verkaufen sie Erfrischungen«, tröstete Jamie die Mädchen. »Das haben sie in Lyttelton zumindest gesagt. Und im Laufe des Abstiegs soll es Herbergen geben, die sich für eine Verschnaufpause anbieten. Wir müssen nur erst oben sein, dann ist das Schlimmste geschafft.« Damit ging er beherzt das nächste Wegstück an, und die Mädchen folgten ihm über den steinigen Grund.
Helen hatte während des Aufstiegs kaum Zeit, die Landschaft in Augenschein zu nehmen, doch was sie sah, war entmutigend. Die Berge wirkten kahl, grau und wenig bewachsen.
»Vulkangestein«, kommentierte Mr. O’Hara, der schon mal im Bergbau gearbeitet hatte. Aber Helen musste an die »Berge der Hölle« aus einer Ballade denken, die ihre Schwester manchmal gesungen hatte. Genau so – öde, fahl und unendlich – hatte sie sich den Hintergrund für die ewige Verdammnis vorgestellt.
Gerald Warden hatte seine Tiere tatsächlich erst ausladen können, nachdem alle Passagiere von Bord waren. Allerdings machten auch die Männer vom Transportunternehmen eben erst ihre Maultiere zum Abritt bereit.
»Wir schaffen das vor der Dunkelheit!«, versicherten sie den ängstlichen Ladys, die sie gerade auf die Mulis gehievt hatten. »Es sind etwa vier Stunden. Gegen acht Uhr abends werden wir in Christchurch eintreffen. Pünktlich zum Dinner im Hotel.«
»Da hören Sie’s!«, sagte Gwyneira zu Gerald. »Denen können wir uns anschließen. Obwohl wir allein natürlich schneller wären. Igraine wird ungern hinter den Maultieren hertrotten.«
Zu Geralds Verdruss hatte Gwyneira die Pferde bereits gesattelt, während er das Ausladen der Schafe überwachte. Gerald musste sich sehr beherrschen, sie deshalb nicht böse anzufahren. Er war sowieso schlechter Laune. Kein Mensch hier kannte sich mit Schafen aus; Pferche waren nicht vorbereitet, und die Herde verstreute sich nun malerisch über die Hügel von Lyttelton. Die Tiere freuten sich über die Freiheit nach der langen Zeit im Bauch des Schiffes und hüpften ungebärdig wie junge Lämmer auf dem spärlichen Gras vor der Siedlung herum. Gerald schimpfte mit zwei Matrosen, die ihm beim Ausladen geholfen hatten, und befahl ihnen streng, die Tiere zusammenzutreiben und so lange zu bewachen, bis er den Aufbau eines provisorischen Pferchs organisiert hatte. Die Männer betrachteten ihre Aufgabe jedoch als erfüllt. Mit der frechen Bemerkung, sie seien Seeleute und keine Schäfer, strebten sie dem vor kurzem eröffneten Pub zu. Nach der langen Abstinenz an Bord waren sie durstig. Geralds Schafe interessierten sie
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