Im Land Der Weissen Wolke
klärte Mr. McLaren dieses Rätsel kurz danach auf. Er unterhielt sich noch ein wenig mit Helen, während seine Frau Rosie half, ihre Sachen zusammenzupacken. »Angefordert hatte mein Meister einen Vierzehnjährigen, der gleich richtig mit anfassen sollte. Und geschickt haben sie einen Knirps, der aussah wie zehn. War aber ein anstelliges Bürschchen. Die Meisterin hat ihn gut gefüttert, und inzwischen ist er ein gestandener Bäckergeselle. Wenn unsere Rosie auch so gut einschlägt, wollen wir uns über die Aufzuchtkosten nicht beschweren!« Er lachte Helen zu und drückte Dorothy eine Tüte Gebäck in die Hand, die er extra für die Mädchen mitgebracht hatte.
»Aber gerecht verteilen, Mädel!«, ermahnte er sie. »Ich wusste doch, dass da noch mehr Kinder sein werden, und unsere Frau Pastor ist nicht gerade für ihre Großzügigkeit bekannt.«
Daphne streckte denn auch gleich gierig die Hand nach dem Zuckerzeug aus. Sie hatte sicher noch nicht gefrühstückt, zumindest nicht ausreichend. Mary dagegen war nach wie vor untröstlich und schluchzte noch lauter, als nun auch Rosemary fortging.
Helen beschloss, es mit Ablenkung zu versuchen, und eröffnete den Mädchen, sie würden heute Schule halten wie auf dem Schiff. Solange die Mädchen noch nicht in ihren Familien waren, konnten sie besser lernen als untätig herumsitzen. In Anbetracht der Tatsache, dass man sich in einem Pastorenhaushalt befand, griff Helen diesmal zur Bibel als Lektüre.
Gelangweilt begann Daphne, die Geschichte der Hochzeit zu Kanaa zu lesen, schlug das Buch aber gern zu, als Mrs. Baldwin kurz darauf eintrat. In ihrer Begleitung befand sich ein großer, vierschrötiger Mann.
»Sehr löblich, Miss Davenport, dass Sie sich der Erbauung der Mädchen widmen!«, erklärte die Pfarrersfrau. »Aber inzwischen hätten Sie dieses Kind wirklich zum Schweigen bringen können.«
Missmutig blickte sie auf die wimmernde Mary. »Jetzt ist es aber auch egal. Dies ist Mr. Willard, er wird Mary Alliston mit auf seine Farm nehmen.«
»Sie soll allein mit einem Farmer leben?«, fuhr Helen auf.
Mrs. Baldwin hob den Blick gen Himmel. »Um Gottes willen, nein! Das wäre wider alle Schicklichkeit! Nein, nein, Mr. Willard hat selbstverständlich eine Frau und sieben Kinder.«
Mr. Willard nickte stolz. Er wirkte ganz sympathisch. Sein Gesicht, das von Lachfalten durchzogen war, zeigte zugleich die Spuren schwerer Arbeit im Freien, die bei jedem Wetter verrichtet werden musste. Seine Hände waren schwielige Pranken, und unter seiner Kleidung zeichneten sich Muskelpakete ab.
»Die älteren Jungs arbeiten schon kräftig auf den Feldern mit!«, erklärte der Farmer. »Aber für die Kleinen braucht meine Frau Hilfe. Im Haushalt und im Stall natürlich auch. Und die Maori-Frauen mag sie nicht. Ihre Kinder, sagt sie, sollen nur von anständigen Christenmenschen aufgezogen werden. Welches ist nun unser Mädchen? Es sollte kräftig sein, wenn’s geht, die Arbeit ist hart!«
Mr. Willard wirkte ähnlich entsetzt wie Helen, als Mrs. Baldwin ihm daraufhin Mary vorstellte. »Die Kleine? Das soll wohl ein Witz sein, Frau Pastor! Da holen wir uns doch das achte Kind ins Haus.«
Mrs. Baldwin sah ihn streng an. »Wenn Sie das Mädchen nicht verzärteln, kann es durchaus hart arbeiten. In London hat man uns versichert, dass jedes der Mädchen das dreizehnte Lebensjahr vollendet hat und unbeschränkt einsatzfähig ist. Also, wollen Sie das Mädchen nun oder nicht?«
Mr. Willard schien zu schwanken. »Meine Frau braucht dringend Hilfe«, sagte er fast entschuldigend in Helens Richtung. »Um Weihnachten kommt das nächste Kind zur Welt, da muss ihr einer unter die Arme greifen. Na, dann komm, Kleine, wir kriegen das schon hin. Na los, worauf wartest du? Und warum weinst du? Herrgott, ich hab wirklich keine Lust auf weitere Schwierigkeiten!« Ohne Mary noch einen Blick zu gönnen, ging Mr. Willard aus dem Stall. Mrs. Baldwin drückte der Kleinen ihr Bündel in die Hand.
»Geh mit ihm. Und sei ihm eine gehorsame Magd!«, beschied sie dem Kind. Mary folgte ohne Widerrede. Sie weinte bloß noch. Sie weinte und weinte.
»Hoffen wir, dass wenigstens seine Frau ein bisschen Mitgefühl zeigt«, seufzte Vikar Chester. Er hatte die Szene ebenso hilflos mit angesehen wie Helen.
Daphne schnaubte. »Zeigen Sie mal Mitgefühl, wenn Ihnen acht Bälger am Rock hängen!«, fuhr sie den Priester an. »Und alle Jahre macht Ihr Kerl Ihnen ein neues! Aber Geld ist nicht da, und das letzte
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