Im Land Der Weissen Wolke
oberhalb der Canterbury Plains, und die Straßen der kleinen Stadt wirkten im Sonnenlicht sauber und anheimelnd. Aus dem Frühstückszimmer der Baldwins drang der Duft von frischem Gebäck und Tee. Helen lief das Wasser im Munde zusammen. Sie hoffte, dass dieser gute Anfang als Omen zu werten war. Bestimmt hatte sie sich gestern nur eingebildet, dass Mrs. Baldwin unfreundlich und kaltherzig, ihre Tochter boshaft und unerzogen und Reverend Baldwin bigott und gänzlich uninteressiert am Wohl seiner Pfarrkinder war. Im Licht des neuen Morgens würde sie die Pastorenfamilie milder beurteilen, ganz bestimmt. Zuerst aber musste sie nach ihren Mädchen sehen.
Im Stall traf sie Vikar Chester, der tröstend auf die noch immer jammernde Mary einredete, was jedoch ohne Wirkung blieb. Die Kleine weinte und fragte schluchzend nach ihrer Schwester. Sie nahm nicht mal das Teeküchlein, das der junge Priester ihr hinhielt, als könnte ein bisschen Zucker alles Leid der Welt lindern. Das Kind wirkte völlig erschöpft; es hatte offensichtlich kein Auge zugetan. Helen durfte gar nicht daran denken, das Mädchen gleich anderen, wildfremden Leuten auszuhändigen.
»Wenn Laurie genauso viel jammert und nichts isst, schicken die Lavenders sie bestimmt zurück«, meinte Dorothy hoffnungsvoll.
Daphne verdrehte die Augen. »Das glaubst du doch selbst nicht. Die Alte verprügelt sie eher oder sperrt sie in den Besenschrank. Und wenn sie nichts isst, freut sie sich, dass sie ’ne Mahlzeit gespart hat. Die ist kalt wie ’ne Hundeschnauze, das Miststück ... oh, guten Morgen, Miss Helen. Ich hoffe, wenigstens Sie haben gut geschlafen!« Daphne funkelte ihre Lehrerin respektlos an und machte keine Anstalten, sich für das »Miststück« zu entschuldigen.
»Wie du gestern selbst angemerkt hast«, meinte Helen eisig, »hatte ich keine Möglichkeit, irgendetwas für Laurie zu tun. Ich werde aber noch heute versuchen, Verbindung mit der Familie aufzunehmen. Davon abgesehen habe ich sehr gut geschlafen, und du sicher auch. Das wäre schließlich das erste Mal gewesen, dass du dich von den Gefühlen deiner Mitmenschen hättest beeinflussen lassen.«
Daphne senkte den Kopf. »Tut mir Leid, Miss Helen.«
Helen wunderte sich. Sollte sie doch so etwas wie einen Erziehungserfolg erzielt haben?
Am späten Vormittag erschienen die künftigen Dienstherren der kleinen Rosemary. Helen hatte sich vor der Übergabe gefürchtet, erlebte diesmal aber eine positive Überraschung. Die McLarens, ein kleiner, rundlicher Mann mit sanftem, pausbäckigem Gesicht und seine nicht minder gut genährte Frau, die mit ihren roten Apfelbäckchen und den runden blauen Augen puppenhaft wirkte, kamen gegen elf Uhr zu Fuß hinüber. Wie sich herausstellte, gehörte ihnen die Bäckerei von Christchurch – die frischen Semmeln und Teeküchlein, deren Duft Helen am Morgen geweckt hatte, stammten aus ihrer Produktion. Da Mr. McLaren vor Tau und Tag mit der Arbeit begann und entsprechend früh zu Bett ging, hatte Mrs. Baldwin die Familie gestern nicht mehr stören wollen, sondern erst heute früh vom Eintreffen der Mädchen unterrichtet. Jetzt hatten sie den Laden geschlossen, um Rosemary abzuholen.
»Gott, sie ist ja noch ein Kind!«, wunderte sich Mrs. McLaren, als Rosemary verängstigt vor ihr knickste. »Und aufpäppeln müssen wir dich auch erst, du kleiner Hungerhaken. Wie heißt du denn?«
Mrs. McLaren wandte sich zunächst ein wenig vorwurfsvoll an Mrs. Baldwin, die den Einwand kommentarlos hinnahm. Als sie dann aber zu Rosemary sprach, hockte sie sich freundlich vor ihr nieder und lächelte ihr zu.
»Rosie ...«, flüsterte die Kleine.
Mrs. McLaren fuhr ihr übers Haar. »Das ist aber ein schöner Name. Rosie, wir hatten uns gedacht, du möchtest vielleicht bei uns wohnen und mir ein bisschen im Haushalt und in der Küche helfen. In der Backstube natürlich auch. Magst du Kuchen backen, Rosemary?«
Rosie überlegte. »Ich mag Kuchen essen«, sagte sie.
Die McLarens lachten, wobei es bei ihm wie ein Glucksen, bei ihr wie ein fröhliches Kicksen klang.
»Das sind die besten Voraussetzungen!«, erklärte Mr. McLaren ernst. »Nur wer gern isst, kann auch gut kochen! Was meinst du, Rosie, kommst du mit uns?«
Helen atmete auf, als Rosemary gewichtig nickte. Die McLarens schienen auch gar nicht überrascht zu sein, dass ihnen hier eher ein Pflegekind als ein Dienstmädchen ins Haus kam.
»Ich habe in London schon mal einen Jungen aus dem Waisenhaus angelernt«,
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