Im Land Der Weissen Wolke
bisschen versäuft er. Da bleibt Ihnen das Mitleid im Hals stecken. Sie selbst tun ja auch keinem Leid!«
Vikar Chester schaute sie erschrocken an. Offensichtlich stellte er sich gerade die Frage, wie dieses Mädchen sich als demütige Dienstmagd im Hause eines ehrbaren Honoratioren der Stadt Christchurch machen würde. Helen dagegen konnten Daphnes Ausbrüche nicht mehr überraschen – und sie ertappte sich dabei, dass sie immer mehr Verständnis dafür aufbrachte.
»Aber, aber, Daphne. Mr. Willard macht nicht den Eindruck, als ob er sein Geld vertrinkt«, rief sie das Mädchen zur Mäßigung auf. Darüber hinaus konnte sie Daphne aber nicht tadeln; sie hatte zweifellos Recht. Mrs. Willard würde Mary nicht schonen. Sie hatte genug eigene Kinder, um die sie sich kümmern musste. Die kleine Magd würde für sie nicht mehr sein als eine billige Arbeitskraft. Der Vikar musste das auch so sehen. Jedenfalls äußerte er sich nicht weiter zu Daphnes Frechheiten, sondern machte den Mädchen gegenüber nur eine kurze, segnende Gebärde, bevor er den Stall verließ. Zweifellos hatte er seine Pflichten schon lange genug vernachlässigt, um sich den Tadel des Reverends zuzuziehen.
Helen wollte die Bibel wieder aufschlagen, aber im Grunde hatten jetzt weder sie noch ihre Schülerinnen Sinn für erbauliche Texte.
»Ich bin mal gespannt, was noch auf uns zukommt«, fasste Daphne schließlich die Gedanken der verbleibenden Mädchen in Worte. »Die Leute müssen ja ganz schön weit weg wohnen, wenn sie noch nicht aufgetaucht sind, um ihre Sklaven in Empfang zu nehmen. Üb schon mal Kühe melken, Dorothy!« Sie wies auf die Kuh des Pastors, die sie sicher schon gestern Abend um einige Liter Milch erleichtert hatte. Mrs. Baldwin hatte die Kinder nämlich keinesfalls an den Resten des Abendessens teilhaben lassen, sondern ihnen nur eine dünne Suppe und ein bisschen altes Brot in den Stall geschickt. Das gastliche Haus des Reverends würden die Mädchen bestimmt nicht vermissen.
9
»Wie lange reitet man wohl von Kiward Station bis nach Christchurch?«, erkundigte sich Gwyneira. Sie saß gemeinsam mit Gerald Warden und den Brewsters vor einem reichlich gedeckten Frühstückstisch im White Hart Hotel. Letzteres war nicht elegant, aber ordentlich, und nach dem anstrengenden gestrigen Tag hatte sie in ihrem bequemen Bett wie tot geschlafen.
»Nun ja, das kommt auf den Mann und das Pferd an«, bemerkte Gerald launig. »Es sind um die fünfzig Meilen, mit den Schafen werden wir zwei Tage brauchen. Aber ein Postreiter, der es eilig hat und zwischendurch ein paar Mal die Pferde wechselt, sollte es leicht in ein paar Stunden schaffen. Der Weg ist nicht befestigt, aber ziemlich eben. Ein guter Reiter kann durchgaloppieren.«
Gwyneira fragte sich, ob Lucas Warden wohl ein guter Reiter war – und warum zum Teufel er sich nicht schon gestern aufs Pferd gesetzt hatte, um seine Braut in Christchurch in Augenschein zu nehmen! Natürlich mochte es sein, dass er noch nichts von der Ankunft der Dublin wusste. Aber sein Vater hatte ihm das Abfahrtsdatum doch mitgeteilt, und es war allgemein bekannt, dass die Schiffe zwischen 75 und 120 Tagen für die Überfahrt brauchten. Die Dublin war 104 Tage unterwegs gewesen. Warum also wartete Lucas nicht hier auf sie? War er auf Kiward Station derart unabkömmlich? Oder war er gar nicht so sehr darauf erpicht, seine künftige Frau kennen zu lernen? Gwyneira selbst wäre lieber heute als morgen aufgebrochen, um ihr neues Zuhause zu erreichen und endlich dem Mann gegenüberzustehen, dem man sie blind anverlobt hatte. Lucas musste es doch genauso ergehen!
Gerald lachte, als sie eine entsprechende Bemerkung machte.
»Mein Lucas hat Geduld«, bemerkte er dann. »Und Sinn für Stil und große Auftritte. Wahrscheinlich könnte er es sich in den kühnsten Träumen nicht vorstellen, dir bei der ersten Begegnung in verschwitzten Reitsachen gegenüberzutreten. Da ist er ganz Gentleman ...«
»Aber mir würde das nichts ausmachen!«, wandte Gwyneira ein. »Und er würde doch auch hier im Hotel wohnen und könnte sich vorher umziehen, wenn er schon meint, ich hielte so viel auf Förmlichkeiten!«
»Ich denke, dieses Hotel hat nicht seine Klasse«, brummte Gerald. »Warte es ab, Gwyneira, er wird dir schon gefallen.«
Lady Barrington lächelte und legte geziert ihr Besteck beiseite. »Es ist doch eigentlich ganz schön, wenn der junge Mann sich eine gewisse Zurückhaltung auferlegt«, bemerkte sie. »Wir sind
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