Im Land Der Weissen Wolke
den Schmerz und die Scham abschaltete, wie man den Geist vom Körper trennte, wenn wieder mal so ein Dreckskerl mit einem »spielen« wollte. Sie war stark. Aber Dorothy würde daran zerbrechen.
Daphne blickte zu Miss Helen hinüber, die gerade lernte – reichlich spät, wie Daphne fand –, dass man am Lauf der Welt nichts ändern konnte, auch wenn man sich noch so sehr wie eine Lady benahm. Dann schaute sie auf Miss Gwyn, die das ebenfalls noch lernen musste. Aber Miss Gwyn war stark. Unter anderen Umständen, beispielsweise als Frau eines mächtigen Schafbarons, hätte sie jetzt etwas unternehmen können. Doch so weit war sie noch nicht.
Und dann die Candlers. Reizende, liebenswerte Leute, die ihr, der kleinen Daphne aus der Gosse, einmal im Leben eine Chance geben würden. Wenn sie ihre Karten nur ein bisschen geschickt ausspielte, würde sie einen ihrer Erben heiraten, ein geachtetes Leben führen, Kinder haben, eine »Honoratiorin« des Ortes werden. Daphne hätte beinahe gelacht. Lady Daphne Candler – das hörte sich an wie eine von Elizabeth’ Geschichten. Zu schön, um wahr zu sein.
Daphne löste sich abrupt aus ihrem Traum und wandte sich ihrer Freundin zu.
»Steh auf, Dorothy! Heul hier nicht rum!«, fuhr sie das Mädchen an. »Ist ja nicht auszuhalten, wie du dich aufführst. Aber von mir aus können wir tauschen. Geh du mit den Candlers. Ich geh mit ihm ...« Daphne wies auf Mr. Morrison.
Helen und Gwyn hielten den Atem an, während Mrs. Candler nach Luft schnappte. Dorothy hob langsam den Kopf und ließ ihr verweintes, rotes und geschwollenes Gesicht sehen. Mr. Morrison runzelte die Stirn.
»Ist das hier ein Spiel? Bäumchen wechsel dich? Wer sagt denn, dass ich unser Mädchen einfach eintausche?«, fragte er zornig. »Mir ist die hier versprochen!« Er griff nach Dorothy, die entsetzt aufschrie.
Daphne sah ihn an, wobei die Andeutung eines Lächelns auf ihrem hübschen Gesicht erschien. Wie versehentlich fuhr sie mit der Hand über ihre strenge Frisur und löste dabei eine Strähne ihres leuchtend roten Haares.
»Es wird Ihr Schaden nicht sein«, hauchte sie, während die Locke über ihre Schulter fiel.
Dorothy flüchtete in Helens Umarmung.
Morrison grinste, und diesmal war es keine Maske. »Na, wenn das so ist ...«, sagte er und tat, als wolle er Daphne helfen, ihr Haar wieder aufzustecken. »Ein rotes Kätzchen. Meine Frau wird entzückt sein. Und du bist ihr sicher eine brave Magd.« Seine Stimme klang wie Seide, doch Helen hatte das Gefühl, als würde sie allein schon vom Klang dieser Stimme beschmutzt. Den anderen Frauen schien es ähnlich zu ergehen. Nur Mrs. Baldwin war nicht empfänglich für Gefühle, gleich welcher Art. Sie runzelte missbilligend die Stirn und schien ernstlich zu überlegen, ob sie den Mädchen den Tausch durchgehen lassen wollte. Dann aber reichte sie Carter bereitwillig Daphnes vorbereitete Papiere.
Das Mädchen blickte nur noch einmal kurz auf, bevor es dem Mann nach draußen folgte.
»Nun, Miss Helen?«, fragte Daphne. »Habe ich mich ... ladylike verhalten?«
Helen schloss sie wortlos in die Arme.
»Ich liebe dich und bete für dich!«, flüsterte sie, als sie das Mädchen gehen ließ.
Daphne lachte. »Für die Liebe danke ich. Die Gebete aber können Sie lassen«, sagte sie bitter. »Warten Sie erst, welches Blatt Ihr Gott für Sie aus dem Ärmel zieht!«
Helen weinte sich in dieser Nacht in den Schlaf, nachdem sie das Dinner bei den Baldwins unter fadenscheinigen Ausreden geschwänzt hatte. Sie hätte das Pfarrhaus am liebsten sofort verlassen und sich im Stall in die Decke geschmiegt, die Daphne in der Aufregung vergessen hatte. Wenn sie Mrs. Baldwin nur ansah, hätte sie schreien können, und die Gebete des Reverends waren für sie wie eine Verhöhnung des Gottes, dem ihr Vater gedient hatte. Sie musste hier raus! Wenn sie sich nur das Hotel hätte leisten können. Und wenn es auch nur halbwegs schicklich gewesen wäre, ihren Zukünftigen dort ohne Vermittler und Anstandsdame zu empfangen! Aber lange konnte das hier nicht mehr dauern. Dorothy und die Candlers waren auf dem Weg nach Haldon. Morgen würde Howard von ihrer Ankunft erfahren.
SO ETWAS WIE LIEBE ...
Canterbury Plains
1852–1854
1
Gerald Warden und sein Tross kamen nur schleppend voran, obwohl Cleo und die jungen Hütehunde die Schafe in flotter Bewegung hielten. Allerdings hatte Gerald drei Lastfahrzeuge mieten müssen, um seine gesamten Einkäufe an Möbeln und sonstigem
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