Im Land des Falkengottes. Echnaton
lebendigen Sonne bemalt war. Wir betraten den zweiten großen Hof, in welchem die gleiche Anzahl Altäre stand wie im ersten: dreihundertfünfundsechzig. Hinter dem nächsten Tor erreichten wir einen kleineren Hof, in dessen Mitte eine Art Beobachtungsturm stand. Er war aus feinstem Sandstein gemauert, und von Westen her führte eine breite Rampe mit zweiundvierzig Stufen empor. Auf der Plattform, die von einem durchbrochenen Steingeländer begrenzt wurde, standen vier Thronsessel: zwei große für das Herrscherpaar und zwei kleinere für die Kinder. Die königliche Familie stieg hinauf und ließ sich auf den Thronen nieder. In einiger Entfernung vor ihnen lag das Allerheiligste des Tempels, und genau darüber erblickte man im Hintergrund die Einkerbung in der Bergkette, wo Echnatons Grab errichtet wurde, und die den Berg aussehen ließ wie ein gewaltiges Schriftzeichen für «Horizont».
Jetzt, da es allmählich heller wurde, sich das Erwachen derNatur und des Tages ankündigte, da alles, was das menschliche Auge sah, sich nicht mehr in bescheidenen Grautönen zeigte, sondern begann, seine wirklichen Farben anzunehmen, vernahm ich einen lieblichen Gesang, ganz leise und anfangs nur als ein Summen, dann deutlicher, und erst jetzt erkannte ich die vielen Sängerinnen – es waren gewiss mehr als sechzig –, die auf den Mauern dieses Hofes standen und von unsichtbarer Hand geleitet einen Lobgesang auf Aton anstimmten:
«Der König
betet den Sonnengott an in der Morgenfrühe
bei seinem Herauskommen,
wenn er auffliegt zum Himmel als Skarabäus.
Der König
kennt die geheime Rede, die Aton spricht,
wenn sie Jubelmusik anstimmen für den Sonnengott
bei seinem Aufgang, seinem Erscheinen im Horizont
und wenn sie ihm die Türflügel öffnen
an den Toren des östlichen Horizonts,
damit er dahinfahren kann
auf den Wegen des Himmels.»
Erst sangen nur wenige von ihnen diesen Lobgesang, und als die ersten Strahlen Atons in der Senke erschienen, erhob sich eine einzelne Frauenstimme, so klar, so herrlich durchdringend, und wiederholte den Gesang so lange, bis die Sonnenscheibe in ihrer ganzen Größe die Senke über dem Allerheiligsten vollkommen ausgefüllt hatte. Jetzt stimmten alle anderen Sängerinnen ein und ließen mit lauter Stimme einen Lobgesang vernehmen, wie ich ihn vorher noch nie für eine andere Gottheit gehört hatte. Echnaton und Nofretete hatten sich längst von ihren Plätzen erhoben und begrüßten mit weit ausgebreiteten Armen ihren Gott. Als er sich in seiner ganzen Größe, nicht mehr rot, sondern golden glänzend zeigte, schlossen sie ihre Augen, und mirschien, als nähmen sie die Wärme und die Kraft der lebendigen Sonne in sich auf, um sie in ihrem Amt als Herrscher Ägyptens weiterzugeben. Echnatons linke Hand hatte die rechte Nofretetes ergriffen. Beide hielten ihren noch freien Arm betend Aton entgegen. Dann wendeten sie sich ihren Töchtern zu und umarmten und küssten sie zum Morgengruß, um sich schließlich selbst zu umarmen und zu küssen.
Es lag eine Innigkeit in diesem Bild, eine Liebe und Würde, die ich niemals vergessen werde.
Nicht mehr mit andächtig ernstem Gesicht, mit welchem sie den Tempel betreten hatten, sondern fröhlich lachend und gut gelaunt verließen sie den Turm und stiegen zu uns, die wir alles von unten beobachtet hatten, herab. Echnaton und Nofretete gingen weiter und verschwanden allein hinter den Mauern des Allerheiligsten, um dort unter freiem Himmel Aton weitere Opfer zu bringen.
Es dauerte lange, bis wir das Gempa-Aton wieder verlassen hatten, denn auf unserem Weg zurück erklärte Echnaton seiner Großen königlichen Gemahlin alles, was ihm wichtig erschien. Er zeigte ihr die vielen, als versenkte Reliefs gearbeiteten Bilder an den inneren Tempelwänden, wies auf jede einzelne überlebensgroße Steinfigur, die ihn oder Nofretete darstellte, und wusste sogar zu berichten, ob sie von Bek, dessen Vater Men oder von Thutmosis geschaffen worden war. Nach annähernd zwei Stunden gelangten wir an das äußere Tor des Tempels, und ich sah, dass nun zu beiden Seiten des Königswegs Tausende Menschen ihren Herrscher laut rufend und winkend erwarteten.
Echnaton hielt für einen Augenblick inne und öffnete seine Arme, um seinem Volk etwas von dem Segen zuteil werden zu lassen, den er soeben von seinem Vater Aton empfangen hatte. Dann bestiegen er und Nafteta und auch wir anderen unsere Wagen und fuhren zwischen den unaufhörlich jubelnden
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