Im Land des Falkengottes. Echnaton
unterrichtet bin, verbringen wir noch dreißig Tage in Men-nefer, ehe wir nach Waset zurückkehren werden. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Ihr, Merire, mir während dieser Zeit so oft wie irgend möglich zur Verfügung stehen würdet. Ich werde täglich hier erscheinen, um in Euren Schriften zu lesen und um mit Euch über das Gelesene zu sprechen.»
«Wenn es die bescheidenen Kräfte eines alten Mannes erlauben, werde ich immer für Euch da sein, Prinz Amenophis», gab Merire zur Antwort, während er sich erhob und sich leicht vor dem Thronfolger verneigte.
Auf unserer Rückfahrt nach Men-nefer sprach der Prinz kaum ein Wort, aber er machte ein sehr zufriedenes Gesicht. Er freute sich sehr auf die kommenden Begegnungen mit Merire.
Mich beschlich eine Ahnung, dass die Begegnung der beiden Männer nicht ohne Folgen bleiben würde. Mir war, als hätte der alte Priester die Hälfte seines Lebens nur darauf gewartet, einem Menschen wie Amenophis zu begegnen. Er hatte nicht nur die bedeutendsten und geheimsten Schriftstücke Ägyptens gehütet wie einen Schatz, sondern auch die Erfahrung und die Weisheit seines eigenen Lebens. Und wenn ich mich nicht täuschte, war mein Schüler Amenophis der erste Mensch, dem er all dies offenbaren würde. Die Schriftstücke hatten gewiss schon viele vor ihm in Händen gehalten und gelesen. Mehr aber auch nicht.Der Prinz schien jedoch der Erste zu sein, der wirkliche Fragen stellte und begriff.
In den folgenden drei Wochen bekam ich den Thronfolger kaum mehr zu Gesicht. Entsprach es ohnehin schon immer seiner Gewohnheit, jeden Tag sehr früh aufzustehen, so verließ er jetzt schon vor Sonnenaufgang Men-nefer, um gemeinsam mit den Sehenden des Re die ersten morgendlichen Riten zu verrichten und um sich anschließend mit Merire in den Lesesaal, die wahre Schatzkammer des Tempels, zurückzuziehen.
Gegen seinen Willen musste ich darauf bestehen, dass er stets von acht Soldaten der Leibgarde begleitet wurde, denn nach den bisherigen Vorkommnissen sollte jede Gefährdung meines Schülers ausgeschlossen sein.
Meist kehrte er spät am Abend zurück, bepackt mit Papyrusrollen, die seine sauber geschriebenen Aufzeichnungen trugen. Nach einem kurzen Abendmahl, das er gemeinsam mit mir einnahm, zog er sich in seine Gemächer zurück und nahm sich oft noch die Zeit, Nofretete einen Brief zu schreiben.
Während unserer gemeinsamen Mahlzeiten berichtete er mir in knappen Worten von den Schriften, die er gelesen hatte und von den Gesprächen mit Merire. Schon nach wenigen Tagen schien er über Re, ja über alle Götter unseres Landes mehr zu wissen, als viele unserer Oberpriester.
Am Tag vor unserer Abreise wurde der vorbereitete Leichnam von Prinz Thutmosis im Thronsaal des Palastes von Men-nefer aufgebahrt. Aus vier Räucherpfannen stieg unentwegt Weihrauch empor, während Priester aus dem Tempel des Ptah die Totengebete sprachen und heilige Lieder gesungen wurden. Prinz Amenophis leitete als Stellvertreter seines Vaters, des obersten aller Priester, die heiligen Handlungen.
Als längst alle Riten vollzogen, alle Gebete gesprochen waren, blieb der Thronfolger lange noch neben der Bahre stehen. Er starrte unentwegt und ohne jede Regung auf die goldene Gesichtsmaske, die das Antlitz des geliebten Bruders trug. Nichtnur der Anstand, sondern mehr meine Zuneigung zum Thronfolger geboten es, dass ich bei ihm verweilte.
Ohne dass ich ihn danach gefragt hätte, sagte er nach fast einer Stunde zu mir: «Was wäre wohl gewesen, wenn er statt meiner den Thron bestiegen hätte?»
«Verzeih, Amenophis», entgegnete ich. «Ich mache mir mehr Gedanken darüber, was sein wird, wenn du einst den Thron bestiegen haben wirst.»
Als unsere Barke frühmorgens im Hafen von Waset einfuhr, erwarteten uns dort die gesamte königliche Familie, alle Großen des Landes und ein Großteil der Bevölkerung von Waset. Ich sah zu meiner großen Freude auch meine Frau und meine Töchter. Zum Zeichen der Trauer waren die Männer seit der Nachricht vom Tod des Thronfolgers unrasiert, und die Frauen rauften sich jetzt die Haare, schlugen sich gegen die Brust und stimmten ein erbärmliches Trauergeschrei an.
Prinz Amenophis verließ zwischen zwei Wedelträgern als Erster das Schiff. Ihm folgte der Sarg mit dem Toten, dann ich selbst. Der Prinz schritt langsam und würdevoll vor seine Eltern, verneigte sich ein wenig und sprach: «Majestät, es war meine Aufgabe, Euren verstorbenen Sohn, den Thronfolger, hierher zu
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