Im Land des Falkengottes. Tutanchamun
prächtig ist wie dieser?», fragte mich der Junge und sah dabei gebannt in das goldene Antlitz vor ihm.
«Nein, natürlich nicht. Nur Pharao und die Große königliche Gemahlin dürfen in einem so kostbaren Sarg wie diesem bestattet werden.»
Tutanchaton nickte unmerklich, und mir schien, als hätte ihn meine Antwort zufrieden gestimmt. Ich hatte mich getäuscht. Mein Schützling hatte offenbar jenes Alter erreicht, in welchem es kaum eine Frage gab, die nicht gestellt wurde.
«Wer ist die Himmelsgöttin Nut?», fragte er mich, und ich war überrascht, dass er sich an meine Worte erinnert hatte, waren doch ganz andere Fragen gefolgt, seitdem ich Nut erwähnt hatte. Also hatte ich seine Wissbegierde zu stillen.
«Die Himmelsgöttin ist die Tochter des Luftgottes Schu und seiner Frau Tefnut, der Göttin des Wassers. Ihr Bruder ist Geb, der Gott der Erde. Schu trennte Nut und Geb und bildete so Himmel und Erde. Nut gebiert die Sonne jeden Morgen aufs Neue, nachdem sie sie am Abend zuvor verschlungen hat. Mit den Sternen verhält es sich ebenso. Wenn ihr nach Osten gerichteter Unterleib am Morgen die Sonne freigibt, verschlingt gleichzeitig ihr nach Westen gerichteter Mund am Abend die Gestirne.»
«Und was hat Nut mit einem Toten zu tun?», ließ Tutanchaton nicht locker.
«Die Toten hoffen, dass sie von Schu wie dessen Tochter Nut zum Himmel erhoben werden und so als Stern im Leib der Nut weiterleben können und täglich aufs Neue wieder geboren werden, wie Aton an jedem Tag über uns erstrahlt. Und deswegen werden Särge oft so gestaltet, dass der Tote in den Armen der Nut seine Ruhe findet.»
Seit so vielen Jahren war Aton der einzige Gott, der in Ägypten verehrt werden durfte, und dennoch war mir die Welt der alten Götter so vertraut geblieben, als hätte ich selbst erst tags zuvor darüber Unterricht erhalten. Tutanchaton kannte Zeit seines kurzen Lebens nur Aton als Gottheit, und so schloss sich wie selbstverständlich seine nächste Frage an: «Ist Aton nicht der einzige Gott?»
Ich wusste nicht, was ich jetzt sagen sollte. Es war gewiss nicht ungefährlich, mit einem Kind von erst fünf Jahren über die vergangene Götterwelt zu sprechen, denn es würde womöglich sein Wissen nicht für sich behalten, sondern mit anderen darüber reden oder sich gar mit seinem Wissen hervortun. Und es würde natürlich nicht verborgen bleiben, von wem es dieses Wissen hatte. Konnte man mich dann nicht als Lästerer bezeichnen, der die neue, reine Lehre in Zweifel gezogen hatte? Sicher hätte ich Tutanchaton mit der knappen Antwort: «Natürlich ist Aton der einzige Gott» abfertigen oder ihn mit etwas anderem ablenken können. Doch dann würde er andere fragen.Und welche Antwort bekäme er dann? So entschloss ich mich zu einem Mittelweg, der mir die Möglichkeit gab, ihn nach und nach an die Geschichte der Beiden Länder und deren alte Götter heranzuführen.
«Ohne Zweifel ist Aton der einzige Gott, den wir verehren. Aber das war nicht immer so. Vor vielen Jahren verehrten die Ägypter Re, Osiris, Isis, Ptah, Seth und viele andere mehr. Dein Vater hat erkannt, dass es nur einen einzigen Gott geben kann: Aton. Heute habe ich dir von der Himmelsmutter Nut erzählt. Ich will dir jede Woche von einer anderen Gottheit, die früher verehrt wurde, erzählen. So kannst du dir auch alles besser einprägen.»
Er nickte zustimmend und reichte mir, wie sooft in den letzten Wochen, die Hand, um mit mir in seinen Palast zurückzukehren.
Das Erlebnis mit dem goldenen Sarg war dem Jungen wohl doch zu unheimlich, und weil er Nut und Aton mit dieser Begegnung verband, war sein Wissensdurst fürs Erste gestillt. Stattdessen begann ich, sein Augenmerk auf andere Dinge zu lenken, die ihn mehr fesselten. Ich besuchte mit ihm den Hafen und dessen Lagerhäuser, die Schiffswerft im Süden der Stadt, die Pferdeställe der Streitwagentruppe und die königlichen Landgüter jenseits des Flusses. Kurze Wege legten wir zu Fuß oder in einer Sänfte zurück, für größere Strecken benutzten wir einen Streitwagen. Ich war erstaunt, in welch kurzer Zeit Tutanchaton jede Angst vor der schnellen Fahrt in den unruhigen Streitwagen verloren hatte. Mehr und mehr trieb er mich oder unseren Wagenlenker an, noch schneller zu fahren.
Nach einer dieser Fahrten hatten wir am späten Nachmittag endlich im Palastgarten Ruhe gefunden. Ich saß im Schatten einer Dumpalme und genoss es, wie liebevoll sich der Junge mit einer Schildkröte beschäftigte. Er
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