Im Land des Falkengottes. Tutanchamun
besser, bis ich fast daran glaubte, die Tränen des Re schon einmal gesehen zu haben.
Aber ich dachte nicht nur an die Tränen des Re. Ich überlegte, was meine Tochter wohl unternehmen würde, um uns zu finden. Und ich dachte an meinen Vetter Baki und fragte mich, wie er sich verhalten würde, wenn er nach meinen Plänen befragt wurde. Ob sie ihn schon gefoltert und sein Haus in Schutt und Asche gelegt hatten?
Die Wüste, selbst wenn sie von Felsen durchzogen ist, zwischen denen der Wind hindurchzieht und sie sanft umschleicht, ist ein Ort der vollkommenen Stille. Es sind die unendliche Weite und das Wissen ihres Besuchers um seine Einsamkeit, die diesen Ort so still machen. Umso leichter war es für jemanden wie mich, jedes noch so leise, unscheinbare Geräusch wahrzunehmen. DasKlacken zweier Steine, das an jedem anderen Ort dieser Welt in einem Durcheinander unterschiedlichster Geräusche unbeachtet untergegangen wäre, ließ mich hier aufschrecken wie ein Donner, mit dem man nicht gerechnet hat.
Kurz bevor die Morgendämmerung einsetzte, hatten sie uns eingeholt. Es stand für mich fest: Paheri, dieser verfluchte Paheri, hatte uns doch verraten, und unser Ende war jetzt nicht mehr weit! Während mein Herz zu rasen begann und scheinbar kochend heißes Blut in meinen Kopf presste, sah ich, dass Ipu tief und fest schlief, und auch Tutanchaton lag regungslos neben mir und war in seinen Träumen gewiss auf der Suche nach den Tränen des Re. Vielleicht würden sie ihn wenigstens im Schlaf töten, denn Schreckliches hatte das Kind in seinem erst kurzen Leben wahrhaft genug durchstehen müssen.
Immer näher kamen die leisen, verräterischen Geräusche aneinander stoßender Steine und knirschender Sandkörner, sodass es nur noch eine Frage weniger Augenblicke sein konnte, bis ich auf ihre blitzenden Schwerter oder in die Spitzen ihrer Lanzen starren würde. Vier, fünf Schritte noch. Ich schob mich vor Tutanchaton und breitete meine Decke noch etwas aus, denn, so hoffte ich in meiner Verzweiflung, vielleicht würden sie ihn übersehen, wenn sie mich und Ipu hingerichtet hatten. Plötzlich fiel der Schein einer Fackel auf mein Gesicht und blendete mich so sehr, dass ich mir die Hand vor die Augen halten musste.
«Seid Ihr Gottesvater Eje?», fragte mich der Offizier, der mir jetzt gegenüberstand, mit freundlicher Stimme. In meiner Todesangst sah ich ihn nur entsetzt an und schwieg.
«Habt Ihr Seine Majestät Tutanchaton bei Euch, den Thronfolger der Beiden Länder?», begann er aufs Neue. Ich schwieg noch immer, denn mein Geist war wie gelähmt, und ich war nicht imstande, zu begreifen, was er mich gefragt hatte. Jetzt erwachte auch Ipu und starrte voller Todesangst auf den Offizier. Ich bemerkte, wie sich Tutanchaton hinter mir bewegte, und es dauerte nicht lange, bis sein Kopf hinter meinem Körpervorschaute und auch sein Gesicht vom Schein der Fackel angeleuchtet wurde.
«Seid Ihr Tutanchaton?», fragte der Offizier mit einer ruhigen Stimme, die gar nicht an einen Kasernenhof erinnerte, und neigte sich etwas nach vorn, um mehr erkennen zu können.
«Ja», antwortete Nassib mürrisch, und mir schien, als wäre er nur verärgert darüber gewesen, dass man ihn geweckt hatte, ohne zu ahnen, dass unser aller Ende bevorstand.
Doch statt das Schwert zu ziehen, statt nach einer Lanze zu greifen oder wenigstens anderen den Befehl zu geben, uns niederzumetzeln, reichte der Offizier seine Fackel nach hinten und fiel vor Tutanchaton zu Boden, so wie alle Ägypter seit mehr als zweitausend Jahren vor ihren Herrschern in den Staub fallen. Erst jetzt begann ich allmählich zu begreifen, was er gesagt und was sich gerade abgespielt hatte. Er huldigte Tutanchaton als dem Herrscher der Beiden Länder!
«Was hat das zu bedeuten, Offizier?», fragte ich ihn, nachdem ich aufgestanden war. Doch der Angesprochene blieb regungslos vor Tutanchaton liegen und wagte es nicht, seinen Kopf auch nur ein Stück weit anzuheben. Ich sah zu Nassib und nickte mit dem Kopf. Er hatte verstanden, was ich meinte, und sagte: «Du kannst dich erheben, Offizier!»
Der Soldat, der gerade zwanzig Jahre alt gewesen sein mochte, erhob sich nur zögerlich und heftete seine Blicke auf den Felsboden vor sich, denn auch er wusste, dass es verboten war, Pharao, und war er noch so jung, ins Gesicht zu sehen.
«Beantworte endlich meine Frage! Was hat das alles zu bedeuten, und wie heißt du?»
«Paramessu, Gottesvater Eje. Ich heiße Paramessu. Mein
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