Im Land des Falkengottes. Tutanchamun
Ipu hatte Wert darauf gelegt, das Feuer klein zu halten, denn zum einen wollten wir nicht entdeckt werden, zum anderen mussten wir mit dem Brennholz sparsam umgehen.
«Woran denkst du?», hakte Tutanchaton nach, denn ich hatte seine Frage gar nicht wahrgenommen, so sehr war ich in Gedanken versunken.
«An eine uralte Geschichte», log ich. «Siehst du die Sternschnuppen, die ab und zu dort oben ihre kurze Bahn ziehen?»
Der Junge nickte schweigend.
«Sie erinnern mich an die Tränen des Re.» Nassib drehte seinen Kopf ein wenig, sodass er mir ins Gesicht sehen konnte.
«Tränen des Re?», wiederholte er ungläubig.
«Lange bevor die Pharaonen über Ägypten herrschten», begann ich meine Erzählung, «lebten auch die Götter Osiris, Isis und Seth auf der Erde, und Osiris war der König aller, die auf der Erde waren. Aber Seth, der Bruder des Osiris, hatte ein böses Herz und war neidisch auf seinen Bruder. Er hasste ihn, weil Osiris König war und nicht er, Seth. Deswegen überlegte sich Seth eine List: Er ließ einen Sarg anfertigen, einen wunderschönen Sarg. Eines Tages kamen die Götter, die auf der Erde weilten, zu einem Fest zusammen, und als alle reichlich getrunken hatten, brachte Seth den Sarg und sagte: ‹Ich schenke demjenigen den Sarg, der am besten in ihn hineinpasst.› Da legte sich auch Osiris hinein, und weil Seth den Sarg heimlich genau nach den Maßen seines Bruders hatte anfertigen lassen, passte er ihm am besten. Seth und dessen Kumpane, die in dasVerbrechen eingeweiht waren, verschlossen den Sarg schnell, nagelten ihn zu und warfen ihn in den Nil, um so Osiris für immer zu beseitigen. Re, der schon immer im Himmel weilte, sah dieses Verbrechen und war über die Gemeinheit Seths so traurig, dass einige Tränen über seine Wangen rannen und als Sternschnuppen zur Erde fielen, wo sie sich in die kostbarsten Edelsteine verwandelten, die es gibt. Seitdem liegen die Tränen des Re irgendwo dort draußen in der westlichen Wüste und warten seit zehntausend Jahren darauf, gefunden zu werden.»
Tutanchaton sah mich lange mit großen Augen und schweigend an. Ich merkte ihm an, wie die Geschichte in ihm arbeitete, und ich war gespannt, welche Fragen er mir stellen würde.
«Und welche Farbe haben die Tränen des Re?», fragte er leise und so bedächtig langsam, als könnte er dadurch seiner Frage besonderes Gewicht verleihen.
«Es soll eine ganz eigenartige Farbe sein. Eine Mischung aus hellem, milchigem Grün und einem blassen Gelb. Etwa so wie Kupfer, wenn sich Schimmel auf seiner Oberfläche bildet.»
«Hast du schon einmal eine Träne des Re gesehen?», wollte er jetzt wissen, denn meine selbstsichere Auskunft hatte ihn wohl misstrauisch werden lassen.
«Nein! Natürlich nicht», gab ich ehrlich zu. «Ich kenne sie auch nur von Erzählungen.»
Nach zwei weiteren Tagen hatten wir jenen Punkt erreicht, an welchem wir die Richtung änderten: Von jetzt an sollte unser Weg nach Osten führen, bis wir das Delta durchquert und das nördliche Meer erreicht hätten. Die Landschaft, die wir durchzogen, war durchsät von unzähligen Felsen, die nicht höher als zwanzig, dreißig Ellen waren und die vom Wind der Jahrtausende zu merkwürdigen Figuren geformt worden waren. Diese Gebilde luden uns förmlich dazu ein, Ratespiele zu veranstalten, was uns die Zeit angenehm verkürzte. So zogen wir vorbei an einem hockenden Pavian, einem tanzenden Flusspferd,an einer auf dem Rücken liegenden Katze und an einem den Mond anjaulenden Hund. Nassibs Vorstellungskraft schien keine Grenzen zu kennen.
«Die Nacht verbringen wir dort an dem kleinen Löwen, der sich hinter dem Ohr kratzt», schlug ich meinen Begleitern vor und bildete mir tatsächlich ein, dass der kleine Felsen dem von mir beschriebenen Tier ähnlich sah.
«Das ist kein kleiner Löwe, der sich hinter dem Ohr kratzt», verbesserte mich Nassib. «Das ist ein kleines Mädchen, das am Ufer kniet und trinkt!»
«Gut», gab ich klein bei. «Dann lass uns dort unser Lager aufschlagen!»
Der Felsen erwies sich als sehr geeignet für unser Lager, denn an seiner Westseite gab es eine Art Höhle, die wir nun bezogen. Tutanchaton und ich versorgten die beiden Esel, während sich Ipu um das Feuer und um unser Essen kümmerte. Es war schon spät in der Nacht, als ich dem Jungen schon zum dritten Mal in Folge die Geschichte von den Tränen des Re erzählen musste, und ich muss zugeben, von Mal zu Mal wurde sie länger und gefiel mir selbst immer
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