Im Land des Regengottes
Morgens muss ich die beiden Kühe und die drei Ziegen melken, die Milch schleudern und die Schafe füttern. Dann gibt es Frühstück und hinterher wasche ich das Geschirr ab. So geht es dann bis zum Abend weiter, wenn Susanna mich auch nur eine Sekunde beim Nichtstun beobachtet – beim Faulenzen, wie sie es nennt –, dann lässt sie sich sofort eine neue Aufgabe für mich einfallen. Sie ist wie Rosa, Frau Künstner und meine Mutter in einer Person.
Du lachst jetzt wahrscheinlich, aber es ist nicht so lustig, wie es sich anhört. Es ist, als wäre ich um die halbe Welt gereist, um wieder in dieselbe Zwangslage zu geraten, in der ich auch vorher gesteckt habe. Vielleicht hätte ich doch in der Kohlstraße bleiben sollen.
Ach, Bertram, wenn Du nur nicht noch so viele Jahre mit Deinem Studium verbringen müsstest! Wenn Du doch schon hier wärst und wir unser gemeinsames Leben beginnen könnten. Aber das Jammern hat keinen Sinn, wir müssen geduldig sein. Ich muss geduldig sein.
Es grüßt Dich sehnsuchtsvoll
Deine Freundin Henrietta
Postscriptum: Beim nochmaligen Durchlesen ist mir aufgefallen, dass ich zwar eine Menge über Susanna geschrieben habe, aber kaum ein Wort über unsere neue Heimat und meinen Stiefvater in spe.
Zum Land: Wie man es von Afrika erwartet, ist es furchtbar heiß und trocken hier, obwohl eigentlich in diesen Wochen Regenzeit herrschen sollte. Zu Freudenreich mehr in meinem nächsten Brief. Nur so viel: Er ähnelt keineswegs Pastor Cordes, den ich auf dem Schiff kennengelernt habe. Leider nicht.
10
Ich gab mir wirklich Mühe, Freudenreich kennenzulernen. Ich wollte kein Urteil über ihn fällen, bis er mir vertrauter war. Der erste Eindruck ist nicht der entscheidende, versuchte ich, mir einzureden. Nach der ersten Enttäuschung gab ich ihm eine zweite Chance, und danach eine dritte und eine vierte. Bis er Fräulein Hülshoff aus Bethanien fortschickte. Danach hörte ich auf, mich anzustrengen.
Das Ganze passierte kurz nach der Hochzeit, einige Wochen, nachdem wir nach Bethanien gekommen waren.
Die Hochzeit selbst war so schlicht, dass sie mir heute kaum noch in Erinnerung ist. Drei Tage vorher hatte es zu regnen begonnen. Wie ein schwerer bleigrauer Vorhang war das Wasser vom Himmel auf die Erde gefallen. Die Fahrrinnen auf dem Baaiweg und das Wasserloch hinter dem Friedhof hatten sich binnen Stunden mit graubraunen Fluten gefüllt. Der Missionar aus Keetmanshoop hielt die Zeremonie ab, dann gab es ein gemeinsames Mahl mit den Ältesten, das wegen des Regens nicht im Freien, sondern in der Schule stattfand. Es gab Ziegenbraten mit Kürbissen, zum Nachtisch Kompott.
Danach zog meine Mutter aus meiner Kammer in Freudenreichs Schlafzimmer um, das war das Einzige, was sich änderte. Susanna behielt ihre Vormachtstellung in der Missionsstation bei. »Ich schon gemacht«, sagte sie, wenn meine Mutter auch nur die geringsten Anstalten machte, eine Entscheidung zu treffen.
»Du musst sie in ihre Schranken weisen«, riet ich ihr. »Sie muss merken, dass du jetzt die Herrin im Haus bist.«
Meine Mutter lächelte müde, als ob ich einen Scherz gemacht hätte.
Wie hätte sie Susanna in ihre Schranken weisen sollen, wenn sie nicht einmal ihre Sprache verstand? Freudenreich setzte sich zwar jeden Abend mit ihr an den Esstisch und versuchte, sie in der Nama-Sprache zu unterrichten, aber meine Mutter war in etwa so gelehrig wie der Rabe, den Trude im vorletzten Winter eingefangen hatte und dem wir das Sprechen hatten beibringen wollten. Auch nach wochenlangen Bemühungen hatte er nicht ein einziges Wort gelernt. Frustriert hatten Trude und ich aufgegeben, und ähnlich frustriert war nun auch Herr Freudenreich.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief er, als meine Mutter das Nama-Wort für Haus zum zehnten Mal vergessen hatte. »Jeder Hottentotte lernt schneller als du.«
Ich kochte vor Wut, als ich das hörte. Wie konnte Freudenreich es wagen, so mit meiner Mutter zu sprechen! Sie dagegen seufzte nur.
Am Anfang hatte ich selbst noch an den Lektionen teilgenommen. Immerhin war ich ja sehr begierig darauf, die Eingeborenensprache zu erlernen. Aber der Missionar war ein genauso sprunghafter wie ungeduldiger Lehrer, er erwartete viel zu schnell viel zu viel von seinen Schülern. »Das habe ich doch nun schon hundertmal erklärt«, herrschte er uns an, wenn wir ihm eine Frage stellten. Also ließ ich meine Mutter bald allein mit ihm am Tisch sitzen und besuchte während der
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