Im Land des Regengottes
heiraten, dagegen konnte auch meine Familie nichts mehr einwenden.«
»Aber Sie sind nicht verheiratet. Was ist geschehen?«
»Er hat mich verlassen. Mich und die Stadt, noch in der derselben Nacht, nachdem er von meinen Umständen erfahren hatte. Er war einfach weg. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört.«
»Der Schuft!«
Fräulein Hülshoff zuckte mit den Schultern. »Ich kann es einfach nicht glauben, dass er mich sitzen gelassen hat. Wir haben uns doch so geliebt. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen. Vielleicht liegt er irgendwo, tot und unerkannt, ohne dass irgendjemand davon weiß.«
Sie liebt ihn immer noch, dachte ich.
Sie schien meinen Gedanken zu erraten und lächelte bitter. »Vielleicht mache ich mir auch nur etwas vor, weil ich nicht einsehen will, dass er feige und gewöhnlich war.«
»Was ist dann geschehen?«, fragte ich atemlos.
»Ich erzählte meinen Eltern erst von meiner Lage, als es sich nicht länger verheimlichen ließ. Sie schickten mich zu Verwandten aufs Land, wo ich das Kind gebar. Man hat es mir direkt nach der Geburt weggenommen, ich weiß nicht einmal, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Ich selbst bin nach meiner Niederkunft wieder zurück in mein Elternhaus. Wenn ich nicht so stur und starrköpfig gewesen wäre, dann wäre vielleicht alles noch gut geworden. Aber es ging nicht mehr.«
»Wie meinen Sie das? Ich verstehe nicht.«
»Meine Eltern verhielten sich, als ob nichts passiert wäre. Sie behandelten mich genau wie früher, das Leben ging einfach weiter.«
»Aber das war doch … sehr großzügig von ihnen.«
Fräulein Hülshoff lächelte traurig. »Sehr großzügig, ja, wirklich. Es ging ihnen nicht um mich, sondern um ihren guten Ruf. Um die Meinung der Nachbarn, der Verwandtschaft, der Bekannten. Niemand sollte erfahren, dass ich ein Kind der Schande geboren hatte. Man suchte fieberhaft nach einem geeigneten Ehemann für mich. Ich wurde in der feinen Hamburger Gesellschaft angeboten wie eine Mastgans. Ständig schleppten mich meine Eltern auf Diners, Soirees, zu Opernbällen und Empfängen . Lieber Herr von Soundso-Schnick-und-Schnack, kennen Sie eigentlich schon unsere bezaubernde Tochter? Ach, der Herr ist schon verlobt? Dann entschuldigen Sie die Störung, wir müssen weiter! Irgendwann konnte und wollte ich das Spiel nicht mehr mitspielen. «
»Was haben Sie gemacht?«
»Es war auf einem Empfang nach einer Opernpremiere. Meine Eltern hatten mich gerade dem Sohn eines wichtigen Senators vorgestellt, alles verlief hervorragend. Der junge Mann war charmant, geistreich und – das war natürlich die Hauptsache – noch nicht gebunden, und dennoch …«
»Was?«
»Ich verlor die Beherrschung. Oder vielmehr die Nerven. Vielleicht auch den Verstand. In jedem Fall fragte ich ihn, sehr freundlich, ob ihm bekannt sei, dass ich erst vor wenigen Wochen ein illegitimes Kind geboren hätte. Der arme Kerl wurde bleich wie Kreide und begann zu stammeln. Die ganze Situation war so absurd komisch: der junge Mann, der vor mir stand und herumdruckste, seine verwirrten Eltern, meine eigenen entsetzten Eltern, die gaffende Hamburger Crème de la Crème. Ich konnte nicht anders, ich musste einfach lachen. Erst verhalten, aber dann brach es aus mir heraus, ich bog mich, schrie und brüllte vor Lachen, bis ich fast die Besinnung verlor.«
Fräulein Hülshoff runzelte die Stirn, als könne sie sich selbst nicht mehr vorstellen, dass sie einmal dermaßen außer sich geraten war.
»Noch in derselben Nacht brachten mich meine Eltern in eine Nervenklinik. Die Ärzte verordneten mir strikte Ruhe, aber ich wollte keine Ruhe. Ich wollte … ich weiß auch nicht, was ich wollte. Jedenfalls riss ich aus und mietete mich in einer Pension ein. Es dauerte natürlich nicht lange, bis meine Eltern mich dort entdeckt hatten und wieder zurück in die Anstalt bringen ließen. Dieses Mal passte man dort besser auf mich auf. Ich wurde Tag und Nacht bewacht. Drei Jahre lang. Dann entließen mich die Ärzte endlich als geheilt. Dabei war ich nie krank gewesen.« Fräulein Hülshoff seufzte. »Immerhin hatten meine Eltern inzwischen eingesehen, dass mich kein Mann der Hamburger Gesellschaft mehr zur Frau nehmen würde. Die Geschichte hatte sich herumgesprochen und ich war ja auch nicht mehr die Jüngste. Mein Vater kam auf die Idee, mich als Gouvernante nach Afrika zu schicken. Mithilfe seiner Beziehungen konnte er mich hier im Schutzgebiet an eine angesehene deutsche Familie vermitteln. Aber
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