Im Land des Regengottes
Missionar Gürtler war unser Schulmeister.« Vier Jahre lang durften die Eingeborenen die Schule besuchen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber nach vier Jahren hatte Petrus nicht genug. Der Missionar hatte fünf Kinder, die er selbst unterrichtete. Petrus hatte ihn gefragt, ob er hin und wieder zuhören könnte, wenn es weniger zu tun gab. Einfach nur zuhören. Aber Herr Gürtler hatte es ihm verweigert. »Er fragte mich: »Was willst du später einmal werden?«, erzählte Petrus. »Aber ich wusste nicht, was aus mir werden sollte. Ich wusste nur, dass ich lernen wollte. ›Vielleicht wirst du Rinder hüten‹, sagte der Missionar. ›Oder Ziegen. Und wenn du sehr klug und verständig bist, wirst du sogar Ältester in der Gemeinde. Aber im Gegensatz zu meinen Kindern wirst du bestimmt niemals Theologie oder Medizin studieren.‹« Die Dinge, die seine Kinder lernten, brauchte Petrus nicht zu wissen, hatte der Missionar Petrus erklärt. Sie würden ihm in seinem Leben nichts nützen. Sie würden ihm eher schaden. Er würde eingebildet und hochfahrend werden und nichts als Schwierigkeiten bekommen.
Aber Petrus hatte ihm nicht geglaubt. Er wollte nicht akzeptieren, dass für ihn andere Regeln galten als für die Missionarskinder. Wenn die Kinder unterrichtet wurden, ließ er seine Arbeit im Stall manchmal liegen und schlich in den Nebenraum oder lauschte unter dem Fenster. Es war lächerlich, er hörte kaum etwas und lernte noch weniger. Aber sein Verhalten blieb nicht lange unbemerkt. Der andere Stallbursche beschwerte sich beim Missionar, dass er alle Arbeit allein machen musste.
»Herr Gürtler hat mich zu sich gerufen«, sagte Petrus und spuckte verächtlich zur Seite aus.
»Und dann?«, fragte ich atemlos. »Was ist dann geschehen?«
»Er hat mich gewarnt. Einmal und noch einmal und noch drittes Mal. Als sie mich danach wieder erwischten, schickten sie mich weg. ›Es tut mir leid‹, sagte Herr Gürtler. ›Du bist ein schlaues Kerlchen, Petrus, das ist mir klar. Aber es ist das Beste für dich, dass wir diese Sache jetzt beenden, glaub mir.‹«
Danach hatte Petrus weder Arbeit noch Einkommen. Er musste wohl oder übel zurück zu seinen Leuten, aber bei ihnen fühlte er sich nicht mehr zu Hause. Der Missionar sollte recht behalten: All das Lernen hatte Petrus anmaßend und eitel gemacht. Mit dem einfachen Leben der Nama konnte und wollte er sich nicht mehr zufriedengeben. Er fing sogar an, auf seine Familie herabzuschauen. Aus Verachtung begann er zu trinken. Zuerst nur abends, aber irgendwann brauchte er den Schnaps schon am frühen Morgen.
»Ich trank, bis ich ohnmächtig wurde, jeden Tag aufs Neue.«
Ich nickte. Auch wenn ich selbst noch nie Schnaps getrunken hatte, konnte ich das gut nachvollziehen. Dass man sich jeden Tag in die Besinnungslosigkeit trank, um zu vergessen wie aussichtslos das Leben war. »Aber wie bist du der Sucht wieder entkommen?«
Petrus erzählte mir, dass er seinen Stamm verlassen hatte und nach Windhuk gegangen war. Dort hatte er auf der Straße gelebt, bettelnd, stehlend. Erbärmlich. Eines Tages hatte er sich im Suff mit einem Herero angelegt, daraus war eine Prügelei entstanden, bei der einer den anderen fast umgebracht hatte. Irgendjemand schleppte Petrus ins Spital, wo man ihn aus Barmherzigkeit wieder einigermaßen zusammenflickte. »Wenn du so weitersäufst, bist du in einem halben Jahr tot«, sagte ein Pfleger zu ihm, als sie ihn entließen. Ein kurzer, schlichter, wahrer Satz. Ein Satz, der Petrus endlich zur Besinnung brachte. »Seit diesem Tag trinke ich keinen Schnaps mehr.«
»Aber warum bist du heute wieder hier in Bethanien?«
»Zufall. Ich habe gehört, dass Herr Gürtler die Station verlassen hatte. Der neue Missionar, Herr Freudenreich, kannte mich nicht, also fragte ich wegen einer Stellung als Treiber an. Er nahm mich, weil ich gut mit Ochsen umgehen kann und Deutsch verstehe.«
»Aber wie gut du unsere Sprache sprichst, hast du Freudenreich nie gezeigt.«
»Nein. Ich hatte meine Lektion gelernt. Ich weiß jetzt, wo mein Platz ist.«
»Und deshalb kleidest du dich auch wie ein Narr?«, fragte ich.
Er nickte. »Die Leute lachen mich aus. Herr Freudenreich, die Ältesten, selbst die anderen Nama machen sich über mich lustig. Aber solange sie mich nicht ernst nehmen, geht es mir gut.«
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte ich.
Er nickte, immer noch ohne mich anzusehen. »Ich habe meine Lektion gelernt«, wiederholte er dann.
14
Großes
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