Im Land des Regengottes
gingen auch die anderen Frauen Wäsche waschen, die kleinen Kinder spielten darum herum, die Alten hockten sich daneben. Auch mich ließ man nie allein. Die kleinen Kinder verfolgten aufgeregt jede meiner Bewegungen. Ein Stirnrunzeln brachte sie zum Kichern, eine schnelle Geste ließ sie erschrocken zusammenzucken. Und hinter ihnen saßen ihre Mütter und die Alten und beobachteten mich ebenfalls.
Vielleicht lag es an der Weite des Landes, das uns umgab, dass keiner sich weiter als ein paar Schritte vom Rest der Gruppe entfernte. Schon die kleinen Kinder wussten instinktiv, dass es gefährlich war, sich abzusondern. In der Wüste konnte man nur in der Gemeinschaft überleben, eine einzelne Person hatte hier keine Chance.
Die Menschen in der Kohlstraße oder in Bethanien waren ständig mit irgendetwas beschäftigt gewesen. Man wusch oder nähte, schälte Kartoffeln, stopfte Strümpfe oder rupfte ein Huhn. Man pflügte den Acker, hackte das Holz oder hütete zumindest Gänse auf dem Feld. Wenn einer nichts tat und nur vor sich hinträumte, wurde er sofort zurechtgewiesen. Faulpelz. Nichtsnutz. Schmarotzer. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, hieß es in der Kohlstraße.
Die Nama dagegen saßen oft stundenlang einfach nur da. Sie redeten miteinander, rauchten ihre Pfeifen, kauten Wurzeln. Verscheuchten hin und wieder eine Fliege. Sie hatten kaum Vieh, das bewacht werden musste, keine Häuser, die man putzen musste, und keine Kleidung, die geflickt werden musste. Sie lebten von der Milch ihrer Rinder, vom Fleisch der Tiere, die von den Männern gejagt wurden, von wildem Honig und von Insektenlarven. Sie säten nicht, sie ernteten nicht. Sie sammelten, was das Land ihnen gab. Sie hatten Zeit.
Nur ich hatte keine Zeit. Jedenfalls heute nicht. Ich musste diesen Brief an Bertram fertigstellen. Am Nachmittag wollte Petrus kommen und ihn mitnehmen.
Ich hatte es seit Tagen vor mir hergeschoben, an Bertram zu schreiben. In meinen früheren Briefen hatte ich ihm immer verschwiegen, wie unglücklich ich in Bethanien war. Ich hatte ihn durch mein Gejammer und meine Sorgen nicht beunruhigen wollen. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich ihm eine kurze Nachricht gesandt – über meine eigene Gemütsverfassung werde ich dir in Kürze berichten – hatte ich ihm versprochen, aber anstatt ihm noch einmal ausführlicher zu schreiben, hatte ich die Station Hals über Kopf verlassen. Und nun lebte ich unter Wilden in einem Negerkraal, grub Wurzeln aus der Erde und kaute darauf herum. Er musste den Eindruck gewinnen, dass ich den Verstand verloren hatte.
Bertram hätte es bestimmt lieber gesehen, wenn ich ihn zumindest um Rat gefragt hätte, bevor ich aus Bethanien geflohen war. Aber ein Brief brauchte Wochen, bis er in Deutschland war, und die Antwort benötigte genauso viel Zeit. So viel Geduld hatte ich nicht.
Und außerdem – was hätte Bertram mir raten können? Bertram, der Deutschland noch nie verlassen hatte, der Deutsch-Südwest genauso wenig kannte wie Freudenreich oder Bethanien.
Ich nahm meinen Bleistift wieder auf und begann, erneut darauf herumzukauen. Der Stift schmeckte bitter. Ich versuchte, mir Bertrams Gesicht vorzustellen, seine ebenmäßigen Züge, die abstehenden Ohren. Sein Lächeln. Seine Stimme. An die Ohren konnte ich mich noch gut erinnern, aber der Rest gelang mir nicht. Mein Zukünftiger, dachte ich. Wie seltsam das klang.
Eines der Kinder sprang plötzlich aufgeregt auf. Die anderen begannen, wild durcheinanderzureden. Petrus kommt! Das hatte ich verstanden. Ein paar Minuten später tauchte der Eselswagen der Missionsstation am Horizont auf. Ich fragte mich, woran die Eingeborenen immer so frühzeitig merkten, dass sich jemand dem Dorf näherte. Ich selbst hatte weder etwas gesehen noch gehört.
Hastig kritzelte ich noch drei Sätze unter mein Schreiben, dann einen kurzen Gruß: Im fernen Afrika vermisst Dich von Herzen, Deine Verlobte Henrietta.
In den beiden Wochen, die ich nun schon im Dorf am Fluss lebte, hatte Petrus mich bereits zweimal besucht. Er hielt sich niemals lange auf, denn natürlich durfte niemand in der Missionsstation davon wissen, dass er mich traf.
»Freudenreich sucht überall nach dir«, hatte er mir erzählt, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten.
»Irgendwann wird er schon aufgeben«, meinte ich. »Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass er mich schmerzlich vermisst.«
»Er macht sich große Sorgen«, beharrte Petrus.
»Aber nicht um mich. Er
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