Im Land des Roten Ahorns
bewusstlos. Bitte, lieber Gott, wenn es dich gibt, dann mach, dass er mich nicht findet! Und mach, dass ich das hier heil überstehe!, flehte sie stumm, während die Blitze über sie hinwegzuckten.
Das Pferd galoppierte durch einen Wald. Am ganzen Leib zitternd und mit Übelkeit im Magen presste sie sich an den Hals des Pferdes, das den peitschenden Ästen geschickt auswich.
Da ertönte über ihr ein Knacken.
Jaqueline richtete sich erschrocken auf. Ein massiger Ast löste sich direkt über ihr. Mit einem Aufschrei versuchte sie, das Tier zu zügeln, doch es war zu spät: Der Ast traf den Kopf des Pferdes, es strauchelte, und Jaqueline wurde im hohen Bogen zu Boden geschleudert. Plötzlich empfand sie nur noch Stille und Dunkelheit.
3. T EIL
EIN L EBEN IN DER W ILDNIS
1
S T . T HOMAS , M AI 1875
»Miss, können Sie mich hören?«
Die Worte drangen wie durch eine dicke Watteschicht in Jaquelines Gehör. Die Dunkelheit, in die sie gestürzt war, zog sich langsam zurück. Mit dem Erwachen kamen auch die Schmerzen. Sie pulsierten durch ihren Rücken und hämmerten in ihren Schläfen. Eine leichte Übelkeit stieg in ihr auf, doch ihr Mund blieb so trocken, als sei sie durch eine Wüste marschiert.
Was ist passiert?, war ihr erster Gedanke.
»Miss, hören Sie mich?«
Die Männerstimme brachte sie dazu, die Augen zu öffnen.
Sie lag auf dem Rücken und blickte in das verschwommene Gesicht eines Mannes mit dunklem Haar und Schnurrbart.
Warwick!
Mit lähmender Angst erinnerte sie sich an das Unwetter und ihre Flucht. Sie war in den Wald geritten, wo sie ein harter Schlag vom Pferd geholt hatte.
Er wird mich töten, wenn ich nicht ...
Als sie sich stöhnend aufbäumte, legten sich zwei Hände sanft auf ihre Schultern und drückten sie auf den Boden zurück.
»Nein!«, wimmerte sie, während ihre Gegenwehr erlahmte.
»Nun mal langsam, Miss! Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Was ist das für eine Stimme?, dachte Jaqueline. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie klingt gar nicht wie die von Warwick.
Als sie die Augen weiter öffnete, klärte sich ihr Blick ein wenig. Die Konturen des Gesichts über ihr wurden schärfer. Sie erkannte, dass der Mann kein schwarzes, sondern braunes Haar hatte und außer einem Schnurrbart auch einen kurzen Kinnbart trug. Seine Augen leuchteten in einem hellen Blau, das sie an den Himmel über der Taube erinnerte. Er trug einen braunen Anzug mit passender Weste und einem gut gestärkten weißen Hemd, dessen Kragen von einem rot gemusterten Halstuch zusammengehalten wurde.
»Wo bin ich?«
»Im Wald von St. Thomas.« Der Fremde lächelte freundlich. »Sie sind vom Pferd gefallen. Das Tier ist von einem Ast erschlagen worden. Sie hatten offenbar Glück.«
Es dauerte eine Weile, bis Jaqueline das Gehörte realisierte. Das war also der Schlag gewesen! Sie erschauderte nachträglich, als ihr bewusst wurde, wie nahe sie dem Tod war.
»Mein Name ist Connor Monahan. Mir gehört eine Sägemühle in St. Thomas. Wir wollten gerade Bäume aussuchen, die geschlagen werden sollten, als wir Sie fanden.«
Während die Worte an ihr vorbeiplätscherten, versuchte Jaqueline erneut, sich aufzusetzen.
»Vorsichtig, Miss!« Connor Monahan streckte ihr eine Hand entgegen und half ihr auf.
Schwindelgefühle übermannten sie, und das Pochen in ihren Schläfen wurde unerträglich. Sie fürchtete schon, sie müsse sich übergeben, aber die Beschwerden klangen ab, als sie im Sitzen still verharrte.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich noch nicht vorgestellt hatte. »Ich heiße Jaqueline Halstenbek.«
Der Mann, der sie immer noch stützte und von dem ein angenehmer Duft nach Holz und Kiefernnadeln ausging, lächelte so breit, dass seine Zahnreihen zum Vorschein kamen, die von einer Goldkrone geschmückt wurden.
»Sehr angenehm, Miss Halstenbek. Was halten Sie davon, dass ich Sie mitnehme? Ich habe hier ganz in der Nähe eine kleine Hütte, die nebenbei bemerkt sehr gut mit Lebensmitteln, Decken und Wasser ausgestattet ist. Sie könnten sich dort ein wenig von dem Schrecken erholen. Wenn Sie wollen, hole ich einen Arzt für Sie.«
»Nein, nein, nicht nötig. Ich brauche keinen Arzt«, versicherte Jaqueline rasch. Die Schmerzen würden bestimmt vergehen, wenn sie erst einmal wieder auf den Beinen stand.
»Sie sind anscheinend eine tapfere Lady. Was meinen Sie, kriegen wir Sie gemeinsam auf die Füße?«
Jaqueline nickte. Mehr als alles in der Welt wollte sie fort von hier. Jeden Moment
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