Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
setzte sie sich immer hin, wenn ihr der Rücken und die Finger vom Flachsweben schmerzten – und sie eine kleine Pause vom beständigen Lernen und Aufpassen brauchte. Sie konnte sich inzwischen halbwegs in Maori verständlich machen, wusste, wie man Barrakouta und Titi zubereitete. Aber von Zeit zu Zeit wurde das Heimweh übermächtig, die Sehnsucht nach einer verwandten Seele. Sie war sich nicht einmal sicher, ob diese verwandte Seele wirklich David war – doch sie sehnte sich nach jemandem, mit dem sie sich blind verstand, der sie noch aus einer Zeit kannte, in der ihr Leben nicht jeden Tag gefährdet war. Hin und wieder fragte sie sich auch, wie wohl ihre Eltern da oben an der schottischen Küste heimisch geworden waren. Hoffentlich hatten sie ihre Briefe erhalten – auch wenn der Inhalt eine Lüge war, würden die Geschichten von einem schönen Leben in Neuseeland ihre Eltern doch beruhigen. In ein oder zwei Jahren würde den beiden vielleicht auffallen, dass sie nichts mehr von ihrer Tochter hörten. Was sie sich dann wohl ausmalten? Tod im Kindbett? Ein Unfall in den gefährlichen Weiten der Wildnis? Ob sie dann wohl versuchten, etwas über sie zu erfahren? Wie konnte sie ihren Eltern nur mitteilen, dass sie Großeltern wurden? Wenn auch nicht von diesem Nathan Ardroy.
Sie kam erst am frühen Abend in Lottys Haus zurück – und fand Amiri, der sich leise stöhnend in eine Ecke gelegt hatte. Seine attraktiven Gesichtszüge waren jetzt fast nicht mehr zu erkennen, so geschwollen waren seine Kinnpartie und die Wangen. Aber er schien glücklich zu sein, dass er diese schmerzhafte Prozedur mit Anstand und ohne zu jammern oder zurückzuzucken hinter sich gebracht hatte. Lotty saß bei ihm und strich ihm mit einem feuchten Blatt unermüdlich über das Gesicht. Sie lächelte Anne von unten an. »Wie ich schon gesagt habe: Heute weiß ich, womit man eine Entzündung verhindern kann – das hier ist ein Absud aus Manukablättern. Du wirst sehen, in ein paar Tagen wird er wieder essen dürfen.«
Anne grinste. »Bei deiner Pflege ganz bestimmt …«
Lotty hatte recht. Amiri ließ sich nach einer Woche von seinen Freunden feiern und verschwand mit einem der Mädchen in eine Hütte – der Zauber des Tätowierers war gebrochen. Und Amiri wurde ab sofort von den anderen Männern des Stammes wie einer von ihnen behandelt. Was bedeutete, dass er noch häufiger zu Jagdzügen und kleinen Plündereien bei den Nachbarstämmen aufbrach.
Während Anne unbeweglicher wurde, wurde aus dem Herbst ein Winter mit vielen Stürmen und windigen Tagen, an denen sie am liebsten Lottys Hütte überhaupt nicht mehr verlassen hätte. Die beiden Frauen erzählten sich noch mehr Geschichten aus ihrer Kindheit, träumten von einer Zukunft hier in Neuseeland und suchten nach einem passenden Namen für Annes Kind. Ihr Glaube an eine Rückkehr von David schwand, als die Tage wieder länger wurden und sie wieder häufiger auf der kleinen Veranda vor Lottys Hütte saßen. Es war ihr egal, dass Lotty immer wieder erklärte, dass David gar nicht schneller hätte sein können. Die Hebamme hatte Anne untersucht und erklärt, dass das Baby jetzt jederzeit kommen könnte. »Mach dir aber keine Sorgen, alles ist gut, du bist jung und gesund!«, hatte sie betont – und längst brauchte Anne keine Lotty mehr, um ihr diese Sätze zu erklären.
Einige Tage später lief sie abends den Strand entlang. Sie genoss die milde Brise und den süßen Duft nach den blühenden Bäumen in diesem Frühling im Oktober. Vögel strichen immer wieder durch die Wipfel, das Meer rauschte leise und war so ruhig wie nur selten in dieser Gegend am Kap. Anne summte leise vor sich hin und beschloss, dass sie trotz ihres gewaltigen Bauchs bis zu den Klippen laufen wollte, um noch ein paar Muscheln und ein paar Algenblätter für ein Abendessen zu sammeln. Zügig kletterte sie einen Felsen am Ende der Bucht empor und löste mit einem kleinen Messer aus Knochen die ersten Muscheln. Die Anstrengung ließ ihr Schweißtropfen über die Schläfe laufen. Anne verfluchte wieder einmal ihre dicken schwarzen Haare und steckte sie entschlossen im Nacken zusammen. Dabei ließ sie ihren Blick über den Horizont gleiten – und zuckte zusammen. Zwei Schiffe!
Die beiden waren nicht einmal sehr weit entfernt, ein geübter Schwimmer würde ohne Probleme zu ihnen hinausgelangen können. Anne schirmte mit einer Hand ihre Augen von der Sonne ab, um genauer sehen zu können. Die Flagge verriet
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