Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
dafür schmerzten ihr die Haarwurzeln immer noch zu sehr.
Lotty klopfte ihr aufmunternd auf den Rücken. »Das wird schon. Eigentlich ist alles ganz einfach: Du musst den Häuptling und die Älteren achten – und der Rest ergibt sich von ganz allein. Ich kümmere mich schon um dich. Jetzt kommst du erst einmal mit zu unseren Weberinnen. Es könnte ja ganz nützlich sein, wenn du hier auch etwas über unser Handwerk …«
Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als plötzlich eine hellhäutige junge Frau auf sie zurannte. »Mama, ist es wahr? Sind hier wirklich Engländer?«
Das musste wohl Sarah sein. Anne trat hinter Lotty hervor und nickte ihr zu. Sarah musterte sie mit unverhohlener Neugier. Lotty mochte ihr die Sprache der Engländer beigebracht haben – sie hatte vergessen, ihr zu erklären, dass man fremde Menschen nicht einfach anstarrt. Anne spürte, wie sie sich unter dem Blick unwohlfühlte, und brach das Schweigen. »Du musst Sarah sein. Ich habe schon von dir gehört. Ich heiße Anne!« Sie reichte ihr die Hand, die Sarah so ratlos ansah, als hätte Anne ihr einen toten Fisch entgegengestreckt.
Lotty puffte ihre Tochter in die Seite. »Ich habe dir doch erklärt, dass Engländer sich die Hand geben, wenn sie sich treffen. Wenn du in London jemanden mit einem Hongi begrüßt, bekommst du nur eine Anzeige wegen unsittlicher Annäherung.«
»Hongi?« Anne sah ihre Lehrerin fragend an.
»Das ist dieses Reiben der Nasen, von dem ich dir erzählt habe. Geht eigentlich um den Austausch des Lebensatems – aber hat nicht mehr zu bedeuten, als wenn man sich eben die Hand gibt …« Sie zuckte mit den Schultern. »Man gewöhnt sich daran. Hier haben die Männer wenigstens keine Schnurrbärte – und es gibt bei diesem Wetter auch keine tropfenden Schniefnasen.«
Sarah sah Anne weiter unverwandt an. »Ich will unbedingt auch mal nach England. Sind da alle so groß wie du?«, platzte es aus ihr heraus.
»Nein«, versicherte Anne. »Aber die meisten Mädchen haben doch etwas mehr an als du.«
Sarah trug nur einen Rock, der aus hellem und dunklem Flachs gewebt war, um ihre Schulter noch einen Umhang aus dem gleichen Stoff – und sonst nichts. Anne konnte ihr Grinsen kaum unterdrücken, als sie sich vorstellte, wie Sarah durch London lief. Barfuß, im kurzen Röckchen und mit diesen langen Haaren, die offensichtlich noch nicht allzu oft einen Kamm gesehen hatten.
»Wie unpraktisch«, lachte Sarah. »Man kann sich doch viel besser bewegen, wenn man nicht so viel mit sich herumschleppt.«
Anne hob nur eine Augenbraue und sah Lotty an. Die grinste entschuldigend. »Meine Sarah segelt doch nicht morgen nach England. Was hätte ich davon gehabt, hier eine kleine Engländerin zu erziehen, die das Leben im Busch nicht kennt? Nein, wenn meine Sarah nach London kommt, dann wird sie die Bräuche der Engländer eben lernen müssen, wie du jetzt die Bräuche der Maori lernst. Mit ein bisschen gutem Willen und Mühe geht das schon!«
Sie bedeutete ihrer Tochter und ihrem Gast, ihr zu folgen – doch in diesem Augenblick kamen zwei weitere Frauen, winkten und forderten alle drei dazu auf, ihnen zum Kochplatz zu folgen. Anne folgte nur zu bereitwillig – es roch köstlich nach gebratenem Fleisch. Hühnchen, wenn sie ihr Geruchssinn nicht trog. Und tatsächlich: Auf den heißen Steinen lagen Teile von Vögeln. »Titi«, erklärte Lotty. »Werden aus ihren Nestern genommen, kurz bevor sie fliegen können. Du hast Glück: Eine echte Leckerei ist das!« Damit hielt sie Anne auch schon auffordernd eine Keule entgegen. Anne griff zu – und musste in dem Augenblick, in dem sie das fettige Fleisch auf der Zunge spürte, auch schon würgen. Sie schaffte es gerade noch, Lotty das Fleisch zurückzugeben, bevor sie zum nächsten Baum rannte, hinter dem sie sich erbrach.
Als sie wiederkam, lachten alle Frauen. Mit ihren Händen deuteten sie an, was sie glaubten: einen dicken Bauch. Anne ließ sich langsam in einer Ecke nieder. Womöglich hatten sie doch recht.
In den nächsten Stunden wanderte ihr Blick immer wieder zu Sarah. War so ein Mädchen, weit weg von ihren Wurzeln, wirklich glücklich? Oder suchte sie ständig nach ihrer inneren Heimat, die wahrscheinlich weder in Neuseeland noch in England lag. Eine Heimatlose zwischen den Ländern. So wie das Kind, das sie zur Welt bringen würde. Sie seufzte. Was konnte sie schon tun? Einfach weiterleben, einen Tag nach dem anderen, und das Beste daraus machen. Das hatte sie in den
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