Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
nächste Hunger kommt.« Lottys Rundungen zeigten, dass sie sich diese Erkenntnis immer sehr zu Herzen genommen hatte.
Zögernd nahm Anne einen ersten Bissen und aß dann mit Appetit weiter. »Sollten wir uns nicht in den Wäldern verstecken? Wir beide wissen, wozu die Engländer mit ihren Gewehren fähig sind. Wir sollten hier nicht wie die Lämmer auf der Schlachtbank sitzen und warten, bis es losgeht.«
Kopfschüttelnd nahm Lotty ein weiteres Kumarastück aus ihrer Schale. »Nein, ich muss bei meinen Leuten bleiben. Nach so langer Zeit sind sie mein Stamm geworden. Mehr als diese Idioten in Uniform, die da draußen in unserer Bucht sind.«
»Sie werden sie niedermetzeln …« Anne versagte die Stimme bei dieser Vorstellung.
Diese Nacht fand keiner im Pa Schlaf. Die Krieger bereiteten ihre Speere vor, schärften ihre Äxte sorgfältig im Schein der Feuer. Die Farnbäume glänzten im Mondlicht, als seien sie aus Silber. Anne sah ihnen zu und fühlte sich, als ob sie Menschen aus der Steinzeit beobachtete, die mit ihren ungenügenden Waffen gegen ein wildes Raubtier losrannten. Das ganze Dorf hatte nur sechs Gewehre. Was sollten Speere, Äxte und die wenigen Musketen gegen fünfzig Kanonen ausrichten? Immer wieder wünschte sie sich, dass einfach alle wegrannten. Aber das würde der Stolz eines guten Kriegers nie zulassen. Sie strich über ihren Bauch, noch immer unschlüssig, ob sie sich selbst und das ungeborene Leben in Sicherheit bringen sollte. Aber vielleicht konnte sie die englischen Soldaten aufhalten, irgendetwas sagen, was sie davon abhalten würde, den Stamm einfach niederzumetzeln? Also blieb sie sitzen und wartete auf die Morgendämmerung. So wie alle anderen im Pa auch.
Ganz allmählich färbte sich der Himmel zum Gesang der Vögel am Horizont erst grün, dann rötlich, dann gelb – und schließlich stieg die Sonne als gleißender Ball aus dem Pazifik auf. Sie war noch nicht voll erschienen, als auch schon das erste Krachen einer Kanone über die Bucht hallte. Und dann noch eine. Und noch eine. Die Kugeln reichten nicht bis in den Pa – aber sie sorgten dafür, dass keiner der Krieger am Strand den englischen Soldaten begegnen konnte. Einer nach dem anderen wich in dem Kanonendonner aus. Die Kugeln hinterließen tiefe Krater, Bäume splitterten und fielen krachend um.
So weit Anne sehen konnte, wurde in diesem Hagel keiner verletzt. Mit einem Mal wurde es wieder still – nur eine einzige unheimliche Sekunde lang. Dann rannten die am Strand im Schutz der Kanonenkugeln gelandeten Soldaten den Weg zum Pa empor – und schossen dabei auf alles, was sich bewegte. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis Anne klar wurde, dass sie in diesem Lärm und Durcheinander auf kein offenes Ohr für ein paar vernünftige Worte stoßen würde. Das hier war ein Abschlachten, der heutige Kampf sollte allen anderen Maori eine Warnung sein, sich gegen die neue Macht im Land aufzulehnen. Sie rannte zu einem dicken Baum, unter dem sie hinter dichtem Gestrüpp verschwand. Hier drehte sie sich noch einmal um.
Sie erkannte Amiri, der mit hoch erhobener Axt und gebleckten Zähnen auf einen Soldaten zurannte. Der kämpfte gerade mit dem Zündschloss in seinem Gewehr, konnte nicht rechtzeitig laden – und musste dafür mit seinem Leben bezahlen. Triumphierend streckte Amiri seine Faust in die Höhe, als der Soldat mit gespaltenem Schädel niedersank. Ein Triumph, der nur kurz währte. Nur wenige Meter entfernt riss ein weiterer Soldat sein Gewehr hoch, zielte kurz und schoss Amiri mitten in die Brust. Der sah einen Augenblick lang verwundert nach unten auf die klaffende Wunde – und sank dann ohne einen weiteren Laut in die Knie. Lottys Sohn und Hoffnung auf die Zukunft war Vergangenheit.
Plötzlich raschelte es neben Anne. Schwer atmend tauchte einer der alten Krieger neben ihr auf. Er erkannte sie und spuckte vor ihr aus. »Das ist das Unglück, das du in unser Leben gebracht hast!«, zischte er sie an.
Sie hätte ihm entgegnen können, dass sie sehr gerne friedlich an dieser Küste vorbeigesegelt wäre – wenn man sie nur unbehelligt gelassen hätte. Aber dafür war kaum die Gelegenheit. Der alte Mann spähte zwischen den Blättern hindurch und wartete, bis ein weiterer Mann in Uniform nur wenige Meter von ihnen vorbeischlich, suchend um sich blickend und angespannt wie eine Feder. Lautlos sprang er zwischen den Ästen hervor, rammte seinen Speer in den Rücken des Soldaten, zog den Speer heraus, und schon stand
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