Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
letzten Jahren wahrlich gelernt.
Es sollte nicht lange dauern, bis auch Anne wusste, dass alle Frauen im Dorf recht hatten. Sie erwartete ein Kind. Auf Lottys Rat hin ging sie sogar zu der Frau, die in diesem Dorf als Hebamme und Heilerin arbeitete. Sie sah ihr in die Augen, untersuchte den Bauch und nickte dann zufrieden. Das Baby war gesund, daran gab es keinen Zweifel – zumindest, wenn es nach der Hebamme ging.
Ohne dass sie es merkte, liefen Anne Tränen über das Gesicht. Nun war es nicht mehr nur eine nebelhafte Idee von einem Kind – sondern ein Wesen, das schon seinen eigenen Kopf hatte. Mit einem Mal war sie sich sicher, dass sie es irgendwie schaffen würde. Leider hatte sie immer noch keine Ahnung, wie. Oder ob sie auch einen Vater für dieses Kind hatte.
Auf dem Rückweg hörte Anne Gesänge vom Marae in der Dorfmitte. Neugierig kam sie näher – und sah Lotty, die sie hektisch heranwinkte. »Komm! Mein Amiri wird heute tätowiert!«
Die grün-schwarzen Linien, die die meisten Männer der Maori im Gesicht trugen, waren kaum zu übersehen. Bis jetzt hatte Anne noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie sie eigentlich entstanden. Immerhin trugen auch die meisten Seeleute irgendwelche Bilder von verzierten Ankern oder nackten Frauen auf dem Oberarm – und in Kororareka hatten nicht wenige der Frauen eine Liste ihrer Stammkunden in den Arm tätowiert. Das geschah mit einer Nadel oder einer feinen Feder, die in Tinte getaucht wurde. Aber was mochten die Maori verwenden, die Metall noch nie selber bearbeitet hatten? Sicher, ihnen gehörten ein paar Gewehre – aber sie hatten keine Ahnung davon, was man mit Metall tun musste, um daraus etwas herzustellen. Wie brachten sie sich also die kleinen Wunden bei, die für so eine Tätowierung nötig waren? Anne reckte neugierig den Hals, um zu sehen, was da vor sich ging.
Ein alter Mann hatte vor sich ein Tischchen, auf dem einige lange zugespitzte Knochen – oder waren es Federkiele? – zu sehen waren. Dazu eine schwärzliche Paste, die auf ein Blatt geschmiert war. Vor ihm kniete Amiri.
Lottys Sohn hatte Anne in den letzten Wochen nur flüchtig kennengelernt. Er trieb sich meistens mit den anderen jungen Männern des Dorfes herum und machte jedem klar, dass er der künftige Anführer dieses Stammes war. Mit seinem dunklen Aussehen und den hellen Augen von Lotty war er eine auffallende Erscheinung, nach der man sich in jedem Land mindestens einmal umgedreht hätte. Leider war er dazu noch ein rechtes Großmaul, der andere Meinungen nur selten gelten ließ und schon jetzt immer mal wieder auf das »tapu« pochte, das jeden Häuptling umgab. Ziemlich lächerlich, wie Anne für sich selbst beschlossen hatte. Was sollte der Vorteil sein, wenn sich andere Mitglieder des Stammes ihm nicht nähern durften oder gar nur sprechen konnten, wenn Amiri sie dazu aufforderte? Aber jetzt hatte er offensichtlich entschieden, dass es an der Zeit war, richtig männliche Tätowierungen zu tragen.
Anne stellte sich neben Lotty, die aufgeregt auf ihrer Unterlippe kaute. »Was passiert jetzt?«, wisperte sie leise, um die Gesänge nicht zu stören.
»Er wird mit einem Zauber belegt, der gilt, bis seine Wunden verheilt sind. Er darf mit keinem Mädchen zusammenliegen, darf nichts essen … Jetzt wird er ein echter Mann!« Sie war zwischen Stolz und der Angst um ihren Sohn hin und her gerissen, das konnte man sehen.
Der Tätowierer gab Amiri noch etwas zu trinken, von dem Lotty behauptete, dass es die Kraft stärken sollte, um dem Schmerz zu widerstehen. Anne nahm eher an, dass es sich um ein kräftiges Betäubungsmittel oder irgendeinen vergorenen Fruchtsaft handelte … was Amiri auch dringend benötigte, wie sie in den nächsten Momenten merken sollte.
Der alte Mann tauchte seine Knochennadeln in die schwarze Paste und klopfte sie Amiri mit einem Hämmerchen in das Kinn, die Unterlippe, die Wange. Schon nach kürzester Zeit war sein komplettes Gesicht geschwollen und mit Blut verschmiert. Diese Tätowierungen ritzten nicht nur die Hautoberfläche ein wie bei den Matrosen. Sie reichten offensichtlich tiefer, bis auf den Knochen.
Angeekelt wandte Anne sich ab. An so ein Ritual wollte sie sich nun wirklich nicht gewöhnen. Ein Mann wurde ganz bestimmt weder schöner noch männlicher oder gar stärker durch diese Spiralen und Linien im Gesicht. Aber offensichtlich legten die Maori höchsten Wert darauf. Sie ging lieber zu ihrem Lieblingsplatz am Strand.
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