Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Miene aufzustehen und die Becher ins Innere der Hütte zu tragen. »Komm, es wird Zeit für ein wenig Schlaf. Morgen erkläre ich dir mehr über unser Dorf. Wenn du hier einige Monate bleiben willst, dann musst du mehr wissen. Sonst wirst du immer wieder den Zorn der Älteren oder gar von Oaoiti auf dich ziehen. Das ist nicht gut, weder für dich noch für dein Kind.«
»Kind?« Anne spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
»Sicher. Weißt du das etwa nicht? Das hat doch jeder auf den ersten Blick gesehen. Du hast diesen Gang, den nur Mütter kriegen. Und dann weichst du beim Essen manchmal aus, legst Leckerbissen mit einer Ausrede zurück. Das macht man nur, wenn man ein neues Leben in sich spürt. Du hast da noch keine Erfahrung – aber du kannst mir vertrauen.« Sie nickte noch einmal zur Bekräftigung. »Und jetzt wird geschlafen!«
Ihr Ton duldete keinen Widerspruch, und Anne legte sich in der Ecke der Hütte auf das duftende Heu, das Lotty gestern an die Stelle gestreut hatte. Sie zog eine warme Decke über ihre Schultern und strich vorsichtig mit einer Hand über ihren Bauch. Konnte Lotty wirklich recht haben? Und dann noch die viel grausamere Frage: Wer war wohl der Vater dieses Kindes? Einer der Kunden ihrer letzten Tage bei Jameson – oder schon ihr angetrauter Ehemann? Sie hatte die letzten zwei Jahre Glück gehabt und war einfach nicht schwanger geworden. Hin und wieder hatte sie sich leise gefragt, ob sie womöglich sogar unfruchtbar war – ohne Bedauern. Die Kinder der Huren von Kororareka waren zahlreich und tobten als eine Art menschlicher Abfall durch die Straßen. Da wollte man nicht noch ein Balg in die Welt setzen, das von Anfang an als Bastard eines leichten Mädchens galt.
Aber jetzt? In der Wildnis mit nichts als der Hoffnung, dass ihr Mann eines Tages wiederkehren würde? Ein Kind schien ihr immer noch wie das Verkehrteste, was man bekommen konnte. Sie streichelte mit ihrer Hand über den flachen Bauch und murmelte immer wieder: »Nein. Nicht jetzt. Bitte nicht!« Ein leises Gebet gegen das Leben.
Der nächste Morgen brachte nichts als eine leichte Übelkeit – und eine sehr resolute Lotty, die sie an die Hand nahm. »Es wird Zeit, dass du etwas über die Maori lernst. Und am besten fangen wir heute an!«
Sie führte sie wieder in das Dorf – und Anne fiel zum ersten Mal auf, dass es sogar eine Art Stadtmauer gab. Die bestand zwar nur aus einem umlaufenden Erdwall und einer Palisade, die obendrauf gesetzt war – aber immerhin sah es aus, als ob sie eine Art Schutz bieten könnte.
»Unser Dorf. So etwas wird Pa genannt, hier lebt die Gemeinschaft der Maori. Ich gehöre nicht dazu – deswegen ist meine Hütte auch außerhalb. Zum Glück etwas abseits im Busch, ich glaube nicht, dass ich bei einem Krieg wirklich in Gefahr wäre.« Lotty schritt weiter aus, sie hatte es offensichtlich eilig mit ihrer kleinen Besichtigung.
»Krieg?« Anne runzelte die Stirn. »Passiert das denn häufig?«
»Sicher. Die Maori sind keine friedliebenden Wilden, das kannst du mir glauben. Die klauen sich gegenseitig die Waffen, die Frauen, das Land … Allerdings nur im Sommer, im Winter ist es ihnen zu unbequem.« Ihren Spott über diese Form der Kriegsführung verhehlte Lotty nicht. Doch sie ließ sich in ihren Erklärungen nicht bremsen. Sie deutete auf ein Haus auf Stelzen. »Da findest du alle Vorräte des Dorfes. Getrockneter Fisch, gesammelte Kumara, der Zuckersirup vom Cabbage Tree, den sie hier Ti Kouka nennen – alles da drin. Du darfst dich im Pataka allerdings nicht einfach bedienen. Er stellt den Reichtum eines Dorfes dar, also wird er verteidigt.«
»Pataka. Ti Kouka«, wiederholte Anne brav. Sie musste die Sprache lernen, Lotty durfte nicht ihr einziges Sprachrohr in dieser Welt bleiben.
Sie kamen an ein besonders großes Haus, das ihr schon am Vortag aufgefallen war. Forsch ging Anne darauf zu, es schien ihr wie das Zentrum dieses Orts. Lotty hielt sie am Arm fest. »Das ist das Marae, das Versammlungshaus. Hier darfst du erst nach einer Zeremonie herein – dafür müssen ein paar von den älteren Mitgliedern des Stammes da sein. Einfach so reinrennen gehört sich nicht.«
Am Ende des Rundgangs schwirrte Anne der Kopf. Mit den vielen neuen Wörtern wäre sie ja noch zurechtgekommen – aber dazu die Verbote und Regeln, die ungeschriebenen Gesetze und die kleinen Stolperfallen, die sie sich alle merken musste. Sie wollte nicht noch einmal Oaoitis Zorn auf sich ziehen,
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