Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
nutzlosen Bewegung die Stirn ihrer Mutter.
»Gibt es nicht irgendetwas, das wir tun können?« Anne spürte, wie nackte Panik in ihr aufstieg.
»Nichts. Wir können einfach nur warten, bis sie einschläft.« Über Sarahs Gesicht liefen Tränen.
»Das lasse ich nicht zu. Auf den Schiffen der Engländer muss ein Arzt sein. Oder wenigstens ein Bader. Irgendjemand! Ich gehe hin und finde jemanden, der uns hilft!«
Entschlossen stand sie auf und machte sich auf den Weg hinunter zum Strand. Schon von Weitem konnte sie die Engländer hören. Sie hatten mehrere kleine Feuer entfacht, um die sie sich versammelt hatten. Als Anne näher kam, sprang eine Wache hinter einem Baum hervor.
»Wer da?« Der Junge war wirklich noch sehr jung, auf seiner Oberlippe spross gerade der erste Flaum.
Anne richtete sich zu voller Größe auf. »Mein Name ist Anne Courtenay. Ich wünsche den Befehlshabenden zu sprechen!«
»Anne Courtenay? Die entführte Frau, wegen der wir überhaupt hier sind?« Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Dann glitt sein Blick auf ihren angeschwollenen Leib. »Um Himmels willen! Hat einer dieser Wilden …?«
»Natürlich nicht, Dummkopf!«, wies Anne ihn zurecht. »Mein Mann war nur sieben Monate weg, in der Zeit kann man auch mal ordentlich schwanger werden. Aber ich brauche einen Feldscher! Eine Frau, eine Engländerin, liegt dahinten im Sterben. Sie braucht Hilfe! Sofort!«
»Noch eine Engländerin? Wir wussten die ganze Zeit nur von einer …«, stammelte der Jüngling, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
»Hilfe. Wir brauchen Hilfe!«, unterbrach ihn Anne. Sie hatte keine Zeit für ihn.
Endlich drehte er sich um und rief nach hinten: »Master Fraser! Kommt hierher!«
Eine bullige Gestalt erhob sich. Er hatte sich um einen verwundeten Soldaten gekümmert, der vor ihm auf einer Trage lag. Anne lief ihm entgegen und fasste ihn am Arm. »Kommt schnell mit, dahinten liegt eine Engländerin, die dringend Eure Hilfe braucht! Schnell!«
Der kleine weißhaarige Mann war offensichtlich kein Freund großer Worte. Er nickte nur, drehte sich um, griff nach seiner abgeschabten alten Tasche und machte sich auf den Weg, so schnell es seine kurzen Beine zuließen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie Lotty sahen. Immer noch im Arm von Sarah, die ihre Mutter sanft wiegte.
Fraser ließ sich neben den Frauen auf die Knie fallen und zog Lottys Hände behutsam zur Seite, um die Wunde zu untersuchen. Mit gerunzelter Stirn sah er sich alles an, legte seine Finger an Lottys Hals, um den Puls zu spüren, und stand dann kopfschüttelnd auf. »Hier kann meine Kunst nichts mehr ausrichten. Diese Frau wird bereits von Gevatter Tod umarmt. Ich bin mir sicher, dass sie die Sonne nicht mehr am Horizont untergehen sehen wird.« Er nickte noch einmal zur Bekräftigung seiner Worte und drehte sich um. Anne versuchte ihn zurückzuhalten. »Ihr könnt doch nicht einfach gehen und sie so liegen lassen! Tut doch irgendwas!«
Er machte sich unbeirrt auf den Weg. »Wir würden dieser Frau nur Schmerzen zufügen, wenn wir sie an den Strand bringen. Und es würde nichts bringen, sie würde uns trotzdem unter den Händen wegsterben. Ich gehe lieber zu meinen verletzten Männern. Denen kann ich noch helfen.« Damit verschwand er auf dem Weg, den er noch vor wenigen Augenblicken hochgekeucht war.
Anne sah ihm einen Moment lang fassungslos hinterher, dann setzte sie sich wieder zu Lotty und griff nach ihrer blutverschmierten Hand, die sie behutsam drückte.
Kaum wahrnehmbar reagierte Lotty mit einer leichten Bewegung der Hand. Ihre Augenlider flatterten. »Finde deinen eigenen Weg, Sarah«, flüsterte sie mit rauer Stimme. Sarah beugte sich weit nach vorne, damit sie die Worte verstehen konnte. Und Lotty wiederholte es noch einmal, eindringlicher: »Für dich gibt es keinen Weg, der vorgezeichnet ist, du musst dir einen eigenen suchen, der dich zur Wahrheit führt. Deinen … eigenen …«
Die wenigen Worte schienen das letzte bisschen Energie, das sie noch hatte, verbraucht zu haben. Sie schloss die Augen wieder, stöhnte noch einmal leise – dann sank ihr Kopf langsam und friedlich zur Seite.
Ihr Atem versiegte. Lotty war tot.
Sarah liefen die Tränen über die Wangen, während sie ihrer Mutter immer wieder über die Stirn streichelte. »Was soll ich ohne dich nur tun? Ich bin doch ganz alleine! Mama, komm zurück! Was soll ich …«, jammerte sie endlos. Irgendwann wurde sie leiser und wimmerte nur noch vor sich
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