Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
er wieder neben Anne. Die ganze Aktion geschah in einem Atemzug. Anne roch den scharfen Geruch von Schweiß und den merkwürdig süßlichen Geruch des Blutes, das auf seine Hände gespritzt war. Ihr wurde mit einem Mal übel, sie drehte sich um und übergab sich, bevor sie stolpernd in den Wald verschwand. Sie wollte und konnte nicht mehr mit ansehen, wie diese Menschen sich gegenseitig das Leben brutal beendeten.
Sie lief ohne Pause und ohne innezuhalten den Hügel empor, bis sie nicht mehr konnte und das Knallen der Gewehre nur noch ein fernes Echo war. Erst dann ließ sie sich unter einen Busch fallen, zog die Knie nach oben und lauschte nur noch ihrem Herzschlag, ihrem rasselnden Atem und dem Rauschen des Pazifiks tief unter ihr. Diesen Tag wollte sie einfach für immer vergessen, egal, wie er enden würde. Sicher, sie hatte ständig von einer Rettung geträumt – aber doch nicht auf Kosten all der Menschen, die ihr teuer geworden waren. Sie kniff die Augen zu, fest entschlossen, sie erst wieder dann zu öffnen, wenn endlich kein Schlachtenlärm mehr an ihr Ohr dringen würde.
Anne hatte keine Ahnung, wie spät es eigentlich war, als sie ihre Augen wieder öffnete. Irgendwann musste sie vor Erschöpfung einfach eingeschlafen sein – ihr schwangerer Körper hatte seinen Tribut gefordert, egal, wie aufgewühlt ihr Geist sein mochte. Mühsam richtete sie sich etwas auf und lauschte ins Tal. Nichts. Keine einzige Muskete wurde mehr abgefeuert, die Kanonen schwiegen. Langsam stand Anne auf und machte sich auf den Weg nach unten. Es war ein heißer Tag, Fliegen summten, Vögel zwitscherten, und es roch nach den süßen Blüten der Büsche, so wie am Vortag, als sie noch den friedlichen Strand entlanggewandert war. Ein Paradies, wenn sie nicht so sehr gefürchtet hätte, was sie wohl im Pa erwarten würde.
Als Erstes entdeckte sie Paddy-Jay. Er lag ausgestreckt auf dem Weg, in seinem Rücken steckte ein Speer. Offensichtlich wollte er sich vor der Schlacht in Sicherheit bringen – und einer der Maori hatte diesen Plan nicht gutgeheißen. Sie ging ohne Bedauern an dem reglosen Körper vorbei. Seine Geldgier und Dummheit hatten nichts als Unheil gebracht. Nicht nur in ihr Leben, sondern auch in das Leben der Maori. Ein Taugenichts, dessen Tod die Welt nicht ärmer machte.
Dann trat sie auf den schmalen Weg, der vom Meer hoch zum Pa führte. Er war übersät von Menschenleibern, die sich nicht mehr rührten. Einige in Uniform, aber die meisten nur mit einem Gürtel aus geflochtenem Flachs bekleidet. Sie ging an Amiri vorbei, bückte sich und schloss ihm die Augen. Einige Schritte weiter lag der alte Mann, der neben ihr im Busch gestanden hatte. Auch Oaoiti – reglos. Sie rannte an ihm vorbei, wollte nur noch weg von den geschundenen Gestalten. Als der Pa schon fast in Sichtweite war, hörte sie aus einem Gebüsch ein lautes Stöhnen. Das Stöhnen einer Frau. Anne näherte sich vorsichtig – und sah zu ihrem Entsetzen Lotty, den Kopf im Schoß von Sarah gebettet. An ihrem Bauch klaffte eine hässliche Wunde, die ohne Unterlass blutete und die sie vergeblich mit ihren blutverschmierten Fingern zu schließen suchte.
Anne ließ sich neben ihnen auf die Knie fallen und griff nach Lottys Schulter. »Was ist passiert?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Wir Frauen haben uns alle im Pa verborgen. Aber Mama hat es nicht ausgehalten, sie hatte so sehr Angst, dass Amiri etwas zugestoßen sein könnte. Also ist sie los – und gleich dem ersten Soldaten vor den Lauf gerannt. Den Engländern war es völlig egal, ob sie Männer, Frauen oder Kinder erschießen – sie haben immer abgedrückt. Wie bei meiner Mutter. Ich habe sie vor zwei Stunden hier gefunden …«
»Wo ist die Heilerin?« Anne sah in Panik in Richtung Pa.
Wieder ein Kopfschütteln. »Weg. Als den Frauen klar wurde, dass kein einziger Krieger diesen Tag überleben würde, sind sie in die Wälder geflüchtet. Dort halten sie sich versteckt – und ich bin mir sicher, sie werden erst wieder auftauchen, wenn die Schiffe aus der Bucht verschwinden. Von uns glaubt doch keiner mehr an irgendeine friedliche Absicht! Du hattest recht, wir hätten alle auf dich hören sollen!«
»Wir sind hier ganz alleine?« Anne konnte es nicht glauben.
»Bis auf ein paar Verwundete, die sich in unsere Hütten geschleppt haben. In die Hütten, die von den Engländern nicht in Brand gesteckt worden sind!« Sarah streichelte dabei unablässig mit einer ebenso fahrigen wie
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