Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
jetzt glaubte sie, dass in dem Bildnis des kleinen Kalbs neben dem Leib des Wals eine Sehnsucht nach einem eigenen Kind zu erkennen war. Eine Hoffnung auf eine andere Zukunft.
Jede Nacht hielt er sie in seinen Armen, erzählte ihr von der wunderbaren Zeit, die auf sie beide in ihrer »Bucht der vielen Strände« auf sie wartete.
Jetzt legte er die Balken sorgfältig auf den Boden und sah ihre Anordnung mit einem Stirnrunzeln an. Sie kam langsam näher und sah ihm über die Schulter. »Über was denkst du nach?«
Er drehte sich zu ihr um und strahlte ihr entgegen. Sein Gesicht war in den letzten Wochen von der Sonne noch tiefer gegerbt worden. Schon der Marsch vom Ostkap nach Kororareka hatte jedes überflüssige Gramm Fett von seinen Rippen verschwinden lassen. Eigentlich sah er fast verwegen aus. Der behäbige Besitzer einer Walfängerflotte war ihm kaum noch anzusehen. Nur seine grauer werdenden Schläfen zeigten, dass er einige Jahre älter als Anne war und die dreißig schon lange überschritten hatte.
David deutete auf die Balken. »So stelle ich mir den Grundriss vor. Ich kann mich allerdings nicht entscheiden: Wollen wir von unserem Schlafzimmer aus das Meer oder den Busch sehen? Und müssen wir womöglich schon ein Zimmer für einen kleinen Bruder oder eine Schwester von Charlotte einplanen? Was meinst du?«
»Ich finde ein weiteres Zimmer für diesen Winter überflüssig. Sollte Charlotte Geschwister bekommen, können wir immer noch anbauen. Und das Schlafzimmer – ich würde wirklich gerne jeden Morgen aufs Meer schauen. Wir haben einen so wunderschönen Blick von hier oben, den würde ich gerne immer beim Aufwachen vor mir haben.«
Statt einer Antwort nahm er sie in die Arme. »Dein Wunsch ist mir Befehl! Und mach dir mal keine Gedanken wegen der Geschwister. Ich werde schon dafür sorgen, dass Charlotte nicht alleine spielen muss!« Er zog sie fester an sich, gab ihr einen liebevollen Kuss und sah ihr tief in die Augen. »Mich hat noch nie ein Mensch so glücklich gemacht wie du. Mit dir erscheint mir dieses Abenteuer hier wie das einzig Richtige, was ich tun kann!«
Anne lächelte ihn an – und fühlte sich tief in ihrem Inneren schuldig. Warum nur konnte sie diesen großzügigen Mann nicht richtig lieben? Er legte ihr einfach alles, was er hatte, zu Füßen, und sie brachte ihm nicht mehr als herzliche Zuneigung entgegen. Dabei hatte David so viel Besseres verdient. Sie wandte sich mit einem Ruck dem Grundriss ihres Hauses zu – und deutete auf den zweiten großen Raum, der in Richtung Meer zeigte. »Und was planst du hier?«
Er musterte sie kurz, bemerkte ihre ausgebliebene Erwiderung auf seine Liebeserklärung und deutete dann auf den Grundriss. »Hier habe ich die Küche und den Essplatz geplant. Mit einer Veranda, damit wir an den schönen Sommertagen draußen essen können. Du sagst jeden Abend, wie gut dir unser Leben im Zelt und im Freien gefällt, dass ich mir überlegt habe, auch ein wenig in der Zukunft davon zu bewahren. Nach hinten gehen dann die Vorratskammer und Charlottes Zimmer.« Er sah sie an. »Passt dir das so?«
»Sicher!« Sie nickte und blickte sich auf dem Rest der Lichtung um. Innerhalb der wenigen Wochen, seitdem die Fläche freilag, hatten sich wieder niedriges Gestrüpp und einige Gräser breitgemacht. Sie hatten beschlossen, noch vor dem Winter einige Schafe und Hühner zu kaufen. Die Hühner für den Eigenbedarf und die Schafe, um eine kleine, bescheidene Zucht aufzubauen. Dafür müsste auf dieser Lichtung allerdings noch etwas nahrhafteres Grünzeug wachsen. Regelmäßig lief sie mit reifen Gräsern herum, die sie an anderen Stellen sammelte, und hoffte, dass sich die Samen irgendwie festsetzen und vermehren würden.
Mit einem Mal fiel ihr ein kleiner Zaun auf, der unweit des Hauses an einem sonnigen Platz stand. Den hatte sie bisher nicht bemerkt – oder hatte David diesen Zaun erst vor ein paar Tagen errichtet? Immerhin war sie eine Weile nicht mehr hier oben gewesen. Neugierig ging sie näher heran und hörte, wie David ihr auf dem Fuß folgte.
Der Zaun war aus biegsamen Ruten geflochten und etwa einen halben Meter hoch. Sie sah auf ein paar Reihen mit dürren Ästchen, die im Boden steckten. Und erst jetzt erkannte sie die Blätter. Sie erinnerte sich im gleichen Augenblick an lange vergangene Gespräche mit Samuel Marsden, dem Missionar in Kororareka. »Wein …«, murmelte sie und drehte sich ungläubig zu ihrem Mann um.
»Wie um alles in der Welt
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