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Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Titel: Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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so laut sie konnte. Das war nicht sehr damenhaft, aber es war ihr völlig egal.
    Die Stute schob sich unendlich langsam an dem Braunen vorbei. Sie waren bereits die halbe Zielgerade herunter, als sie endlich um eine lächerliche Kopflänge vorne lag. Der Rest des Feldes befand sich abgeschlagen hinten – aber Anne war sich alles andere als sicher, ob die Stute dieses irrsinnige Tempo durchhalten konnte. Das Ziel lag schon zum Greifen nahe, als die Fuchsstute plötzlich strauchelte. Sie machte noch einen weiteren Galoppsprung und schien dabei fast in die Knie zu gehen. Der Aufschrei auf den Tribünen galt nur zum Teil dem Braunen, der an ihr vorbeizog und als Erster die Ziellinie überquerte. Es war vielmehr ein Schrei des Entsetzens, als die Stute noch einen letzten Sprung machte, dann stehen blieb und ein Vorderbein in die Höhe hielt. Jeder konnte sehen, dass es direkt über dem Fesselgelenk merkwürdig hin und her baumelte. Der Jockey ließ sich sofort aus dem Sattel gleiten und bückte sich neben dem Bein. Mit einer fast zärtlichen Bewegung strich er ihr über das Bein und schüttelte immer wieder den Kopf.
    Anne drehte sich um und rannte die Stufen hinunter. Sie musste jetzt einfach zu dem kleinen Pferd, das so offensichtlich litt. Mit dem Einsatz ihrer Ellenbogen schob sie sich durch die Menge, erreichte den niedrigen weißen Zaun, der die Zuschauer von der Rennbahn abtrennte, sprang mit gerafften Röcken darüber und rannte die letzten Meter zu der Gruppe auf dem Rasen. Ihr Vater war noch vor ihr bei seinem Pferd.
    Dem leichenblassen Jockey liefen Tränen über das Gesicht. »Sie ist einfach eingeknickt, Sir. Ich habe keine Schuld. Einfach plötzlich eingeknickt. Dabei wollte sie doch unbedingt gewinnen, die kleine Miss. Habe es genau gespürt. Einfach eingeknickt.«
    Anne legte der kleinen Stute die Hand auf die weichen Nüstern. Die Adern traten ihr an Hals und Kopf noch bleistiftdick hervor, so sehr hatte das Rennen sie angestrengt. Aber in den Augen sah Anne die reine Angst. Die Panik eines Tieres, das zum Laufen geboren war und das jetzt keinen einzigen Schritt mehr machen konnte. William Courtenay kniete neben dem Bein und sah einen herbeigeeilten Tierarzt ratsuchend an. »Was ist nur passiert?«
    »Ich nehme an, sie ist in ein Loch getreten. Oder das Bein hat einfach die Belastung nicht ertragen. Überlastung könnte auch ein Grund sein. Auf jeden Fall ist es gebrochen. Diesem Pferd kann niemand mehr helfen. Wir müssen es von seinem Leid erlösen, je schneller, desto besser. Wir wollen den Zuschauern diesen Anblick doch nicht zu lange bieten.« Der Mann nickte einem Helfer zu, der ein Gewehr in die Hand nahm.
    »Aber wir können sie doch nicht einfach erschießen! Das ist barbarisch!«, protestierte Anne. »Könnt Ihr die Stute denn nicht wenigstens für die Zucht retten? Reicht Eure Kunst denn nicht einmal dafür?«
    Sie wollte noch weiter schimpfen, als ihre Mutter sie am Arm packte und schüttelte. »Es reicht, Anne. Der Mann versucht nur, uns zu helfen – aber bei so etwas gibt es keine Hilfe.«
    Wie betäubt musste Anne zusehen, wie zwei Stallknechte einfache Decken vor die Stute hielten, während der Tierarzt sich das Gewehr reichen ließ. Bei den Zuschauern herrschte Grabesstille, als der Schuss über die Rennbahn hallte. Anne sah, wie die Stute zusammenbrach und im Gras lag, als ob sie einfach schlafen würde. Ein Stallknecht legte eine Decke auf sie und machte sich dann daran, Stricke um ihre Beine zu legen. Die kleine Stute wurde noch auf einen Karren gezerrt, während schon die Pferde für das nächste Rennen an den Tribünen vorbeiparadierten. Ihr Kopf hing leblos von der Liegefläche herunter, als der Karren mit leise quietschenden Rädern von der Rennbahn rollte. Mit einem Aufschluchzen wandte Anne sich von dem schrecklichen Anblick ab. Langsam verließ sie den Rasen, auf dem nur noch ein paar feuchte, rötlich glänzende Grashalme von dem Drama zeugten, das hier gerade erst stattgefunden hatte.
    Ohne darüber nachzudenken, wo sie eigentlich hinwollte, lief Anne zu den Stallungen. Vor der Box der Stute hielt sie an und ließ sich auf einen Ballen Stroh fallen. Wie konnte so eine Katastrophe ausgerechnet jetzt passieren? Und warum nur war ihre Mutter so ängstlich gewesen – hatte sie etwa eine Vorahnung gehabt? Kopfschüttelnd vergrub Anne ihr Gesicht in den Händen und ließ den Tränen freien Lauf.
    Sie hatte keine Ahnung, ob sich nur wenige Minuten oder eine ganze Stunde

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