Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Nacht mehr schläft.«
Schweigend legten sie die letzten Meter zur Kutsche zurück. Anne sah, dass der Rennsattel und das Zaumzeug achtlos in eine Ecke geworfen worden waren, und räumte sie mit mechanischen Bewegungen auf. Immerhin konnte es ja sein, dass die Courtenays schon bald wieder ein Pferd zu einem Rennen schicken wollten.
Als die Kutsche sich in Bewegung setzte, erhaschte sie noch einen Blick auf Gregory. Er war gerade in ein offensichtlich ernstes Gespräch mit seinem Vater verwickelt. Während der alte Mallory mit den Händen fuchtelte und ohne Pause auf seinen Sohn einredete, sah der nur auf den Boden. Aber Anne ließ sich dieses Mal nicht aus der Ruhe bringen. Gregory liebte sie aufrichtig, und es gab einfach nichts, was sie beide davon abhalten konnte, nächstes Jahr zu heiraten. Das hatte er ihr schließlich erst gestern Abend gesagt.
Gedankenverloren spielte sie mit dem kleinen Hufeisen, das sie um den Hals trug. Es wurde allmählich Zeit, dass dieses Ding auch Glück brachte.
KORORAREKA, 1831
6.
Genüsslich drehte Anne ihr Gesicht in die Sonne. Ihre neue Heimat mochte ihr kein Glück gebracht haben – aber die Natur und die Kraft der Sonnenstrahlen verblüfften sie immer wieder. Sie ließ ihren Blick langsam über die malerische Bucht wandern. Eingerahmt von dunklen Bäumen, wirkte das Wasser fast unwirklich blau. Die Luft wurde das ganze Jahr über nicht wirklich kalt, war aber nie so drückend und schwül, wie sie es auf der Überfahrt nach Neuseeland in Singapur und Indonesien erlebt hatte. Sie atmete die Luft noch einmal tief ein, als ein kräftiger Schlag auf ihren Oberarm sie aus allen Träumen riss.
»Anne? Was ist los? Träumst du von deiner Vergangenheit als Prinzessin in England? Oder ist das einfach nur eine neue Masche?«
Mit diesem Schlag musste sie sich wieder der Realität stellen. Und die bestand in diesem Augenblick aus einem mageren Jungen, den Jameson vor wenigen Wochen angestellt hatte. Der Kleine hatte bis dahin als Schiffsjunge gearbeitet und wich ihr nicht von der Seite. Leider. Heute hatte Jameson ihn dazu ausgewählt, Anne wieder einmal zum Hafen zu begleiten. »Dieser Wilcox ist wohl ein Verehrer von dir«, hatte er dazu erklärt. »Sorge also dafür, dass er dir nicht untreu wird.«
Sie nickte nur, stellte aber heimlich fest, dass sie sich fast freute. Wilcox war anders als alle anderen Männer, die bei Master Jameson nach einer Frau suchten. Er wollte seit seinem ersten Besuch immer nur sie sehen. Und er war von einer aufrichtigen Zärtlichkeit, die sie immer wieder überraschte. Heute hatte er sie auf sein Schiff bestellt, das im Moment im Hafen lag. Der Neffe war also immer noch nicht abgereist.
Mit einem kleinen Lächeln, das den Schiffsjungen beruhigen sollte, stieg sie in die wackelige Jolle, die sie übersetzen sollte. Minuten später fand sie sich bei Wilcox in der Kabine wieder. Kaum ein Vergleich mit den Verschlägen, in denen viele der Kapitäne hausten. Bei ihm herrschte Sauberkeit, die Luken standen offen, um die klare Luft hereinzulassen, und das Bett war unter einer farbenprächtigen Wolldecke verborgen. Er reichte ihr einen Becher mit echtem schwarzem Tee, eine wahre Delikatesse so fern der Heimat. Anne neigte ihr Gesicht über das Getränk und atmete tief ein. Es war lange her, dass sie so etwas getrunken und damals keinen zweiten Gedanken daran verschwendet hatte. Aber hier, am wildesten Ende der Welt, war so ein Tee Luxus. Sie lächelte Wilcox vorsichtig an.
»Danke. Wo bist du denn seit unserem letzten Treffen gewesen?«
»In Australien. Ein Cousin von mir hat sich dort niedergelassen. Ich habe überprüft, ob wir in Zukunft gemeinsame Geschäfte machen können … nur ein langweiliger Geschäftsbesuch, sonst nichts.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Und – kannst du?« Anne war tatsächlich interessiert. In dieser Gegend der Welt lebten fast alle Männer vom Walfang, dem Handel mit Robbenfellen oder dem allmählich aufblühenden Handel mit dem Flachs der Maori. Ihr fiel es schwer zu glauben, dass man nicht mehr machen konnte.
»Nicht wirklich. Er träumt von Rinderfarmen, mit denen er den Fleischbedarf für ganz Neusüdwales decken will. Ich denke, dass Australien dafür nicht genügend Weiden hat. Wenn ich das richtig sehe, dann besteht Australien zum größten Teil aus Wüsten. Ich werde mich wohl kaum beteiligen.« Wilcox musterte sein Gegenüber. Diese junge Frau mit den schwarzen Locken war ungewöhnlich. Sie
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