Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Mann und Frau. Ihr dürft euch jetzt küssen.«
Anne konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen – aber sie beugte sich pflichtschuldig zu Wilcox hinüber und küsste ihn auf den Mund. Erst vorsichtig, dann erlaubte sie ihm ein wenig mehr Leidenschaft. Der erste Mann, der ihre Lippen berühren durfte, seit sie Gregory verloren hatte. Sie verfluchte sich, dass sich an ihrem Hochzeitstag immer wieder Gedanken an Gregory einschlichen. Für einen Augenblick hielt Wilcox sie fest im Arm, dann richtete er sich auf und winkte einem der Matrosen zu.
»Ich weiß, wir haben nur wenig Zeit, trotzdem sollten wir wenigstens für einen Augenblick innehalten und auf diesen wunderbaren Moment anstoßen. Für diesen Tag habe ich schon seit einigen Jahren einen ganz besonderen Tropfen aufbewahrt!«
Der Matrose brachte eine bauchige Flasche, deren Etikett von einem französischen Weingut kündete, und dazu drei Gläser. Die untergehende Sonne sorgte für eine fast unwirkliche Beleuchtung, als Anne ihr Glas hob und auf ihre eigene Ehe anstieß. Verheiratet in Neuseeland, das war doch das Ziel vor achtzehn Monaten gewesen. Sie sah noch einmal zum Festland, bevor sie das Glas zu den Lippen hob. Hauptsache, sie musste diesen verfluchten Ort nie mehr wiedersehen. Der Wein schmeckte fruchtig und war einfach köstlich. Anne leckte sich die Lippen. Nicht als Einzige. Marsden bediente sich ebenfalls ein zweites Mal aus der Flasche, lächelte und deutete auf einen großen Sack, der an der Bordwand lehnte.
»Passend zu diesem herrlichen Getränk habe ich auch ein Geschenk zu eurer Hochzeit.« Er nestelte am Verschluss, und es traten einige Zweige und Blätter zutage. »Es ist ein weißer Wein, von dem ich angenommen habe, er könnte mit dem hiesigen Klima gut zurechtkommen. In meinem Garten hat er allerdings eher ein kränkliches Dasein geführt, ich fürchte, es ist für diesen Wein doch etwas zu warm. Aber ihr plant einen Aufbruch in den Süden, wer weiß: Vielleicht ist das die richtige Umgebung für meine Reben? Auf jeden Fall wollte ich sie euch schenken – meine Gespräche mit Anne machten mich sicher, dass es ein passendes Geschenk für euch ist.« Er lächelte Anne zu, während er die widerspenstigen Reben wieder zurück in den Sack zwang. »Keine Sorge, ich habe eure Begehrlichkeit durchaus bemerkt. Und auch Master Wilcox hat mir erzählt, dass ihr euch eine Zukunft mit etwas Wein gut vorstellen könnt.«
Strahlend sah Anne den Sack an. »Das ist ein großartiges Geschenk. Ich weiß, wie viel es Euch bedeutet hat, diese Pflanzen den ganzen weiten Weg aus Europa mitzubringen. Es ist ein wundervolles Geschenk, und ich weiß einfach nicht, wie ich Euch danken soll!«
»Es reicht mir, wenn ich euch gottesfürchtig und nicht mehr in Sünde lebend weiß«, erklärte der Missionar. Er warf einen Blick in Richtung Horizont. Die Sonne ging in diesem Moment unter und schickte ihre letzten Strahlen über das Wasser. »Es wird allerdings allmählich auch Zeit, dass ihr verschwindet. Wie abgesprochen, werde ich in den nächsten Tagen fleißig erzählen, dass ich euch eben erst gesehen hätte – und ich denke, die Mannschaft der Cassandra wird auch nichts verlauten lassen. Wir können nur hoffen, dass Jameson einige Tage auf unsere Posse hereinfällt und nichts von dem Verschwinden seiner besten Einnahmequelle ahnt.«
Wilcox nickte. »Alles ist vorbereitet …«
Er half Anne wieder über die Reling – dieses Mal allerdings an der vom Ufer abgewandten Seite. Einer der Seeleute, es war derjenige, der während der Trauung die wehmütige Melodie gespielt hatte, kletterte mit ihnen gemeinsam die schmale Leiter nach unten. Wieder wartete ein Boot auf sie, aber dieses Mal saß kein winkender dicker Jameson darin. Es war leer. Anne und ihr frischgebackener Ehemann ließen sich auf einer Bank nieder, während der Seemann sich kräftig in die Riemen legte. Schnell entfernte sich das Boot von der Cassandra , die bald nur noch ein Schemen gegen den sternenübersäten Nachthimmel war.
Anne sah gedankenverloren nach oben. Seit ihrer Ankunft faszinierten sie die merkwürdig fremdartigen Sterne. Sie hätte zu Hause nie auch nur ein einziges Sternbild benennen können – hier war die Anordnung am Himmel komplett anders als der vertraute Himmel ihrer Kindheit.
Sie konnte dieses Mal allerdings nicht lange im Anblick der Sterne versinken. Wilcox legte ihr den Arm um die Schultern. »Glücklich?«, fragte er leise.
Sie nickte, ohne eine wirkliche Ahnung
Weitere Kostenlose Bücher