Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
Vom Netzwerk:
weiß nicht einmal, ob er ernsthaft etwas für mich empfindet oder nur mit mir spielt und ich lediglich eine Freundin unter vielen bin. Aber im Grunde vertraue ich ihm. Ich liebe den verrückten Burschen und werde alles daransetzen, um ihn diesmal festzuhalten. ›Nur zu zweit ist man wirklich stark.‹ Den Spruch habe ich mal irgendwo gelesen, wahrscheinlich auf einem Kalender. Alles andere ist gelogen. Niemand will gern allein leben, kein starker Mann und keine starke Frau. Drück mir die Daumen, ja?«

29
    Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lauschte sie vergeblich nach einer Jenny. Seufzend erhob sie sich und setzte Kaffeewasser auf. Den toten Raben sah sie erst, als sie auf die Veranda trat und in die Sonne blinzelte. Der Vogel lag vor ihrer Tür auf dem Boden, das Gefieder blutig, der Kopf seltsam abgewinkelt. Ein gefiederter Pfeil steckte in seinem Körper.
    Hannah war so entsetzt, dass sie zwei Schritte zurückwich und sich mit beiden Händen am Türrahmen festhalten musste. Nur mühsam unterdrückte sie einen Schrei. Eine Warnung, erkannte sie, die Indianer hatten ihr ein eindeutiges Zeichen geschickt, das ihr klarmachen sollte, wie wenig sie in diesem Tal willkommen war.
    Zitternd vor Angst hob Hannah den Raben auf und zog den Pfeil heraus. Einer Eingebung folgend begrub sie den toten Vogel neben dem Haus. Noch während sie die Erde über ihm festdrückte, beschloss sie, sich nicht abschrecken zu lassen. Sie lebten nicht mehr im vergangenen Jahrhundert, und sie brauchte nicht mehr zu befürchten, von den Indianern getötet zu werden. Außerdem wartete die Enkelin des Häuptlings sicher schon ungeduldig auf ihre Post. Sie wollte das Mädchen nicht enttäuschen. Irgendwie würde der Chief schon zu besänftigen sein.
    Sie drückte den Rücken durch und ging energischen Schrittes zum Haus, wo sie das Päckchen und die Tüte mit den Zuckerstangen in einen Leinenbeutel steckte und ihr Gewehr zur Hand nahm. Sie verabschiedete sich von dem Husky. »In ein paar Stunden bin ich wieder hier, Captain!« Oder früher, befürchtete sie, falls Chief Alex ihr keine Gastfreundschaft gewährte und sie gleich wieder zurückschickte.
    Sie ging zur Anlegestelle hinunter, band ihr Ruderboot los und stieg hinein. Ein Stück des Weges von dem Husky begleitet, der über den schmalen Pfad am Ufer entlanglief, ruderte sie nach Norden.
    Der Himmel über ihr war klar und beinahe wolkenlos, eine willkommene Abwechslung zu dem trüben und regnerischen Wetter der vergangenen Tage. Vergeblich suchte sie nach der roten Maschine am Himmel. Stattdessen war die keilförmige Formation etlicher Wildgänse zu sehen, die schnatternd über sie hinwegzogen und wärmeren Gefilden entgegenflogen. Erst im Frühjahr des nächsten Jahres würden sie zurückkehren.
    Als sie den Blick wieder senkte, erstarrte sie. Indianer waren in ihren Kanus auf dem Fluss. Wie versteinert saßen sie in ihren Booten, die Paddel im Wasser, um nicht von der Strömung mitgezogen zu werden. Sie versperrten ihr den Weg! Ob sie ihr etwas antun würden, falls sie sich ihnen widersetzte? Unwillkürlich streckte sie die Hand nach ihrem Gewehr aus, doch dann atmete sie tief durch und ruderte weiter. Die Männer würden es nicht wagen, sie mit Gewalt am Weiterfahren zu hindern. Wenn sie einen solchen Übergriff den Behörden meldete, würde man die Tanana schwer bestrafen und vielleicht sogar umsiedeln. Gegen die Indianer ging die Regierung rigoros vor, auch wenn sie seit zwei Jahren als vollwertige Bürger anerkannt waren. Sie durften sich in Alaska genauso wenig zuschulden kommen lassen wie die Schwarzen in New York. Hannah konnte sich noch gut daran erinnern, wie zwei Polizisten einen dunkelhäutigen Dieb zu Tode geprügelt hatten und dafür nicht bestraft worden waren. Nicht einmal einen Verweis hatte es gegeben.
    Vor den Indianern angekommen blieb ihr nichts anderes übrig, als sich treiben zu lassen. Die Männer machten keine Anstalten, den Weg freizugeben, sagten auch nichts, starrten sie nur an und warteten darauf, dass sie umkehrte. Sie ließen nicht erkennen, was sie tun würden, falls Hannah ihre Sperre durchbrach und weiterruderte. Hannah hatte furchtbare Angst vor diesen sehnigen Männern mit den unbewegten Mienen, obwohl sie keine Waffen dabeihatten.
    »Ich bin eure Nachbarin«, erinnerte sie die Männer mit dünner Stimme, »eure Freundin. Ich bringe ein Päckchen und Kekse für Dorothy. Der Postreiter hat mich gebeten, euch die Post zu bringen. Er musste dringend

Weitere Kostenlose Bücher