Im Land des weiten Himmels
plötzlich ein, dass sie erschrocken hochfuhr. Sie stieg aus dem Bett, hastete zum Fenster und blickte in die stürmische Nacht hinaus.
Der Schnee war überall. Wie die Gischt eines schäumenden Ozeans hüllte der Flockenwirbel sie ein, der böige Wind trieb eine Woge nach der anderen gegen das stabile Haus. Der Wind war so heftig, dass er in ihrem Zimmer zu spüren war und mit eisigen Händen unter ihr langes Nachthemd kroch. Die Fensterläden, die ihr Onkel nach deutschem Vorbild angebracht hatte, klapperten in den Scharnieren, ein Geräusch, das sie an das Rütteln und Ächzen der Trimotor über den Wolken erinnerte.
Sie schlüpfte in ihren Morgenrock und die warmen Pantoffel und stieg in den Gastraum hinab. Mit einigen Holzscheiten, die sie vom Stapel neben dem Ofen nahm, fachte sie die Feuer im Ofen und im Herd an und setzte Teewasser auf. Bei dem Sturm war sowieso nicht an Schlaf zu denken. Unablässig fauchte der Wind um das Haus wie eine unsichtbare Bestie, die verzweifelt nach einem Einlass sucht. Der Wintergeist der Indianer, ein aufgebrachtes Monster, das aus dem eisigen Norden kommt und die Sonne vertreibt und zumindest für ein halbes Jahr die Herrschaft übernimmt.
Mit einem Becher heißem Tee trat Hannah an das Fenster neben der Tür und blickte dem Monster direkt ins Gesicht. Dicke Flocken wirbelten vor der Scheibe, dichte Schneewehen schwappten gegen die Wände. In dem Blockhaus war sie sicher. Dennoch lachte sie das Monster nicht aus. Zu mächtig und zu unberechenbar war die Natur hier oben im Norden, als dass man sich hätte sicher fühlen können. Wo Bergriesen wie der Mount McKinley aus dem Boden wuchsen und die eisige Kälte selbst breite Flüsse gefrieren ließ, war niemand wirklich sicher.
Am nächsten Morgen hatte sich die Welt verändert. Der Wintergeist war in seine eisige Höhle zurückgekehrt und hatte eine verschneite und vereiste Wildnis zurückgelassen, die eine eigentümliche Anziehungskraft auf Hannah ausübte. In dem trüben Halbdunkel, das selbst am späten Morgen noch über dem Tal und dem Fluss lag, glänzte eine jungfräuliche Schneedecke, hatte sich ein dicker weißer Teppich über den Hügeln ausgebreitet und reichte bis ans Ufer des Gold River heran. Die Fichten ächzten unter der schweren Last des neuen Schnees, die Birken und Espen hatten alle ihre Blätter verloren und hoben sich als kahle Gerippe gegen das trübe Halbdunkel ab. Ein urwüchsiges Bild, das durch die andächtige Stille, die sich über das Land gelegt hatte, an Bedeutung gewann und Hannah tief beeindruckte. Auch deswegen war sie nach Alaska gekommen, um in dieser urwüchsigen Landschaft ihren Seelenfrieden zu finden und diese Stille auf sich wirken zu lassen.
Captain bereitete das winterliche Wetter besonders viel Freude. Während sie mit einer Schaufel die Veranda frei räumte, tollte er in den Schneemassen herum und konnte gar nicht genug davon kriegen. Er war in seinem Element. Wie jeder Husky fühlte er sich im Schnee und bei niedrigen Temperaturen besonders wohl, nicht im Traum wäre er auf die Idee gekommen, sich ins Haus und an den warmen Ofen zu verkriechen. Selbst einen stürmischen Blizzard ertrugen Huskys ohne zu murren.
Hannah holte die restliche Winterkleidung aus dem Schrank, die gefütterte Hose, die festen Stiefel, die gefütterten Handschuhe, sogar eine Gesichtsmaske für besonders kalte Tage hatte sie sich besorgt. Sie nahm die Schneeschuhe, die neben einem der Fenster hingen, von der Wand und versuchte sich zum ersten Mal im Tiefschnee damit, verlor schon nach wenigen Schritten das Gleichgewicht und versank in einer tiefen Schneewehe. »Lach nur!«, rief sie Captain zu. »In New York hab ich die Dinger nie gebraucht.«
Sie ging mehrere Tage in den Schneeschuhen auf Wanderschaft, gewöhnte sich allmählich an die mit Rohlederriemen bespannten Holzbögen, die ihr Gewicht auf eine breitere Fläche verteilten und ein Einsinken im Schnee verhinderten. Der Trick bestand darin, die Füße senkrecht anzuheben und breitbeinig wie ein Matrose zu gehen. »Na, was sagst du jetzt?«, rief sie dem Husky am vierten Tag zu. »Das klappt doch ganz gut. Noch ein paar Meilen, und ich nehme es mit jedem Fallensteller auf.«
Die Tage wurden immer kürzer, und wenn es nicht dunkel war, legte sich arktisches Zwielicht über die Berge und Täler, nicht Tag und nicht Nacht, eine wehmütige Stimmung, die man nur im hohen Norden antraf. Das Land wurde ruhiger, die Stille so intensiv, das man sie beinahe
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