Im Land des weiten Himmels
Hannah in ihrer Winterkleidung zu erkennen. »Hannah! Mein Gott!« Sie blickte an ihr vorbei. »Sagen Sie bloß, Sie sind mit dem Hundeschlitten gekommen!«
»Darf ich reinkommen, Becky? Ich habe leider nicht viel Zeit.«
»Aber natürlich!« Schwester Becky trat zur Seite und ließ sie in den warmen Flur treten. Sie schloss die Tür. »Wie wär’s mit einem heißen Tee?«
»Gerne … Aber nur, wenn er schon fertig ist.«
»Heißen Tee habe ich immer griffbereit«, erklärte die Schwester, »der ist wichtiger als jede Medizin.« Sie führte Hannah ins Schwesternzimmer, reichte ihr einen Becher und schenkte aus der Kanne auf dem Ofen ein. »Tut mir leid, dass ich Sie nicht besuchen konnte, aber wir hatten hier alle Hände voll zu tun, und ich konnte leider keines der Indianerdörfer besuchen, weder mit dem Boot noch mit dem Hundeschlitten. So gerne ich es auch getan hätte.«
»Die Indianer haben auf Sie gewartet, Schwester Becky.«
Die Schwester blickte schuldbewusst zu Boden. »Ich weiß, aber …« Sie überlegte eine Weile und schien sich einen Ruck zu geben. »Die Wilden kommen auch allein zurecht, sagt Doktor Winslow, mein neuer Chef, und wenn nicht …« Sie seufzte.
»Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Schwester Becky. Aber ein sechsjähriges Mädchen hat wahrscheinlich Diphtherie, und ich brauche dringend Ihre Hilfe.« Sie stellte den Becher auf den Tisch. »Ist Doktor Winslow im Haus?«
Becky überhörte die Frage. »Diphtherie? Woher wollen Sie das wissen?«
Hannah berichtete ihr von den angeblichen Fällen in einem Dorf am Yukon und den Symptomen, die sie bei Dorothy gesehen hatte. »Sie hat hohes Fieber. Selbst wenn es nicht Diphtherie ist, braucht sie dringend einen Arzt!«
»Der Doktor arbeitet in seinem Büro. Er will nicht gestört werden.«
»Wo ist sein Büro?«
Becky zögerte. »Die braune Tür am Ende des Ganges, aber …«
Hannah öffnete die Tür, stapfte durch den Flur und trat ohne zu klopfen in das Büro des Arztes. Er saß an seinem Schreibtisch und blätterte im Schein einer kleinen Lampe in einem Fachbuch. Beim Anblick der vermummten Frau brauste er auf: »Was soll das, Ma’am? Können Sie nicht anklopfen?«
»Tut mir leid, Doktor Winslow, aber es geht um Leben und Tod. Ich bin Hannah Stocker und betreibe das Roadhouse am Gold River. Ein sechsjähriges Mädchen im Winterdorf der Indianer ist schwer erkrankt … Wahrscheinlich an Diphtherie. Sie müssen unbedingt mitkommen, am besten gleich. Mein Schlitten steht vor der Tür.«
»Ich soll mit Ihnen …« Die Aussicht, auf ihrem Schlitten mitfahren zu müssen, schien ihn mehr zu erschrecken als die Erkrankung des Mädchens. »Das meinen Sie doch hoffentlich nicht im Ernst. Ich bin hier unabkömmlich, Ma’am.«
»Und das kranke Mädchen?«
»Eine Indianerin?« Er ließ das Fachbuch sinken. »Ich habe hier in Fairbanks genug zu tun. Unsere Betten sind belegt, alles schwere Fälle. Und wer sagt mir, dass mich morgen nicht ein anderer Weißer ruft? Vor ein paar Tagen wurde ein Ladenbesitzer von einem wütenden Hund angefallen, und der Telegrafist, der während eines Sturms von der Treppe des Telegrafenturms fiel, hätte ohne mich wahrscheinlich gar nicht überlebt. Warum gehen Sie nicht zum St. Joseph? Die Nonnen tun doch immer so barmherzig. Sollen sie sich um die Indianer kümmern. Ich kann hier auf keinen Fall weg.«
»Weiße? Indianer? Macht das etwa einen Unterschied?«
»Wenn Sie am Gold River leben, sollten Sie das langsam erkannt haben, Ma’am. Die Indianer in diesen abgelegenen Dörfern sind nicht bereit, sich unserer Lebensweise anzupassen, also können sie auch nicht erwarten, dass wir sie mit teuren Medikamenten behandeln. Früher haben sie sich doch auch auf ihre Medizinmänner verlassen, warum denn jetzt nicht mehr?«
»Weil wir ihnen diese Krankheiten erst gebracht haben«, fauchte sie den Arzt an. Ihre Geduld hatte Grenzen. »Und weil sie keine Mittel dagegen haben.« Sie trat einen weiteren Schritt auf den Arzt zu. »Wenn Sie nicht kommen können, was ich nicht glaube, lassen Sie wenigstens Schwester Becky mitkommen …«
»Schwester Becky ist ebenfalls unabkömmlich. Wir werden von dieser Stadt finanziert und haben die moralische Pflicht, uns zu allererst um die Bürger von Fairbanks zu kümmern. Das müssen Sie doch einsehen, Ma’am. Es geht gar nicht so sehr darum, dass dieses Mädchen eine Indianerin ist. ›Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich singe.‹ So einfach ist das.«
»Und was ist mit Ihrem
Weitere Kostenlose Bücher