Im Land des weiten Himmels
Eid?«
Darauf wusste der Arzt keine Antwort.
»Das Mädchen hat Diphtherie, Doktor!«
»Das glaube ich nicht, Ma’am. Am Gold River hat es nicht einmal während des Goldrausches einen Fall von Diphtherie gegeben.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Es wird sich um eine stinknormale Grippe handeln.«
»Und die grauen Flecken im Rachen?«
»Beobachten Sie die Kranke, und wenn es wirklich nicht besser wird, kommen Sie wieder.« Er zog eine Schublade auf und nahm eine Dose heraus. »Hier, das ist Arsphenamin, eines der teuersten Medikamente, die zurzeit auf dem Markt sind. Nur damit Sie sehen, dass ich nicht der herzlose Bursche bin, für den Sie mich vielleicht halten. Eigentlich dürfte ich Ihnen das Mittel gar nicht geben.« Er reichte ihr die Dose und schob die Schublade wieder zu. »Nehmen Sie es mit! Eine Tablette pro Tag, und die Kleine ist in ein paar Tagen wieder auf dem Damm.« Er nahm sein Fachbuch auf. »Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen …«
»Und wenn es doch Diphtherie ist?«
»Kommen Sie wieder.«
»Mit dem Hundeschlitten?«
»Auf Wiedersehen, Ma’am!«
Hannah verließ das Büro und schlug die Tür hinter sich zu. Im Flur traf sie Schwester Becky. »Er will nicht mitkommen. Sie sollen auch hierbleiben. Er glaubt nicht, dass es Diphtherie ist.« Sie stapfte wütend durch den Flur. »Und wenn doch? Wenn das Mädchen stirbt? Wenn sich die Seuche ausbreitet … Was ist dann? Ich dachte, hier geht es menschlicher zu.« Vor der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Haben Sie einen Eimer Wasser für meine Hunde?«
»Sicher … Ich bringe Ihnen das Wasser nach draußen.«
Hannah ging zu den Hunden, die ungeduldig vor dem Schlitten warteten, und streute ihnen das Futter aus dem Vorratssack hin. Während die Huskys gierig fraßen, erschien Schwester Becky mit dem Wasser. Sie trug eine Fellmütze und einen Mantel über ihrer Uniform. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich würde gern mitkommen, aber dann wäre ich meine Stellung los. Von irgendwas muss ich schließlich leben. Die Nonnen würden mich nicht einstellen.«
»Schon gut«, erwiderte Hannah. Sie gab den Huskys zu saufen und reichte Schwester Becky den leeren Eimer zurück. »Ich hoffe nur, Dorothy überlebt.«
Becky griff in ihre Manteltasche und drückte ihr verstohlen eine Schachtel in die Hand. »Hier«, sagte sie verschwörerisch, »das sind Spritzen gegen Diphtherie. Spritzen Sie auch die anderen Dorfbewohner, falls die grauen Flecken im Rachen des Mädchens größer werden und ihre Schluckbeschwerden zunehmen.« Sie warf einen ängstlichen Blick zum Haus zurück.
»Danke. Vielen Dank.«
»Sagen Sie niemandem, dass ich Ihnen die Spritzen gegeben habe. Vielleicht merkt der Doktor nicht, dass ich sie genommen habe. Viel Glück, Hannah!«
»Danke, und ich dachte schon …«
»… ich wäre genauso herzlos wie der Doktor? Ich bin feige, Hannah, sonst würde ich mit Ihnen kommen, aber ich möchte auch nicht, dass das Mädchen stirbt. Ich kenne Dorothy. Sie ist mir lieber als manches weiße Mädchen.«
Die beiden Frauen verabschiedeten sich erneut, und Hannah machte sich auf den Weg. Als sie an Weeks Field vorbeifuhr und einen Mann aus der Baracke kommen sah, folgte sie einer Eingebung, ließ die Hunde anhalten und lief zu ihm. »Entschuldigen Sie, ich hätte eine Frage.« Sie deutete auf die festgezurrten Maschinen. »Können diese Flugzeuge auch im Winter starten?«
Der Mann, anscheinend ein Mechaniker, lächelte amüsiert. »Theoretisch schon, Ma’am. Aber die Motoren werden mit Wasser gekühlt, und das friert bei diesen Temperaturen natürlich schnell. Vor einem Monat ist ein Pilot mit einer de Havilland geflogen, der heizte den Motor über kleinen Öfen auf, bevor er startete. Klappte ganz gut, außer dass er sich dabei den … na, Sie wissen schon, abgefroren hat. Die Kälte tut sich keiner an, die kriegst du mit keiner Kleidung weg.«
»Aber es geht … Wenn man will.«
»Technisch gesehen, ja. Warum wollen Sie das wissen?«
»Reine Neugier. Kennen Sie Frank Calloway?«
»Den wilden Frank?« Er grinste. »Das ist der Verrückte, der es vor einem Monat versucht hat. Sagen Sie bloß, Sie kennen den Burschen?«
»Ist er in der Stadt?«
»Sie suchen ihn wohl dringend?«
»Es geht um Leben und Tod!«
»Na, wenn das so ist. Er wird wohl bei Rosy in der Fourth Avenue sein. Rosy Joscelyn.« Er nannte die genaue Adresse. »Nein, nicht das, was Sie denken. Rosy ist dreiundsiebzig und hatte vor dem
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