Im Land des weiten Himmels
und hoffentlich besseren Zukunft entgegenfuhr. »Alaska, ich komme!«, flüsterte sie und hatte Tränen in den Augen, doch diesmal waren es Tränen der Freude.
6
Vor dem Schlafengehen besuchte Hannah den Lounge Car, einen Aussichtswagen am Ende des Zuges mit gemütlichen Sesseln, einigen Tischen mit gepolsterten Stühlen und einer Imbisstheke. Sie leistete sich einen Kaffee mit Milch und Zucker und setzte sich zu einem wenig auffällig gekleideten Ehepaar an einen der Tische. Nur an dem kostbaren Schmuck der Frau erkannte sie, dass die beiden wohlhabend waren.
Die Frau lächelte freundlich, als sie sich setzte. Wie ihr Mann war sie um die fünfzig, trug ihre von grauen Strähnen durchzogenen halblangen Haare zu einem Knoten gebunden und versteckte einen Teil davon unter einem etwas aus der Mode gekommenen, aber hervorragend gearbeiteten Hut mit großer blauer Schleife. Ihrem Blick fehlte die Arroganz, die Hannah bei den meisten anderen reichen Leuten festgestellt hatte, und ihre Wangen waren leicht gerötet, als würde sie zum ersten Mal mit einem luxuriösen Zug fahren. Ihr Mann dagegen wirkte griesgrämig und versteckte sich nach einem flüchtigen Nicken und einem gebrummten Gruß hinter seiner New York Times .
»Mein Mann kann es einfach nicht lassen«, sagte die Frau und bedachte die Unhöflichkeit ihres Mannes mit einem nachsichtigen Lächeln. »Kaum hätte er Gelegenheit, etwas auszuspannen, studiert er schon wieder die Aktienkurse. Als ob es in dieser Welt nur um Geld ginge.« Sie nippte an ihrem alkoholfreien Cocktail, einem Drink mit Ananas und Cocktailkirsche. »Abigail Farnworth. Mein Mann und ich waren geschäftlich in New York. Jetzt sind wir auf dem Rückweg nach San Francisco. Nichts gegen New York, aber an der Westküste gefällt es mir wesentlich besser. Da nehmen wir das Leben doch wesentlich leichter. Und wohin treibt es sie, Miss?«
»Hannah … Hannah Stocker.« Ihr gefiel die wohlhabende Lady. »Nach Alaska. Ich besuche meinen Onkel.« Von der Goldmine brauchte niemand etwas zu wissen. »Ich habe einige Jahre in New York gelebt und kann die Stadt auch nicht besonders leiden.«
»Alaska«, staunte die Lady, »ein wildes Land. Noch größer als Kalifornien oder Texas und im Hinterland noch unerforscht. So stand es in einem der letzten National Geographic Magazines . Da soll es Grizzlys und Wölfe geben.«
»Und Sie können noch bis zum Horizont schauen.«
»Haben Sie denn keine Angst?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Ich bin nur aufgeregt. Ich komme aus Europa, da liegt alles eng beieinander, und selbst wenn man auf dem Lande wohnt, ist das nächste Dorf nur ein paar Meilen entfernt. New York war noch beengter, da fiel mir die ganze Zeit die Decke auf den Kopf, und in den dunklen Gassen war es bestimmt gefährlicher als in Alaska. Nein, ich habe keine Angst. Ich freue mich sogar. Ich hätte schon viel früher fahren sollen.«
»Und Ihr Onkel ist glücklich dort?«
Hannah dachte an den Brief und seine unerfüllte Liebe zu ihrer Mutter. »Onkel Leopold ist ein Abenteurer, der wollte schon als Kind in die weite Welt hinaus. Ich denke, er ist zufrieden, obwohl … Obwohl er niemals geheiratet hat.«
»Wie auch? Da oben gibt es nur Eskimos und Indianer.«
»Nicht nur«, erwiderte Hannah lächelnd.
Aber im Grunde hatte die Lady recht. Wenn sie die Worte ihres Onkels richtig gedeutet hatte, lebte er mehr als sechzig Meilen nördlich von Fairbanks, der einzigen größeren Stadt im Inland, wie sie inzwischen gelernt hatte, in vollkommener Einsamkeit und begegnete wahrscheinlich nur alle paar Wochen einem anderen Menschen. Kein Wunder, dass er jahrelang ihrer Mutter nachgetrauert und niemals eine andere Frau geheiratet hatte. Auch sie würde es schwer haben, in dieser Einöde einen Mann zu finden. Und wenn schon!
»Auch in New York habe ich nie einen Mann getroffen, mit dem ich mein ganzes Leben verbringen möchte«, sagte Hannah mit betont fester Stimme, »und da wimmelt es von Männern. Ich glaube, wenn Gott will, dass sich zwei Menschen kennen und lieben lernen, sorgt er auch dafür, dass sie einander treffen. Selbst in Alaska.«
Die Lady nippte amüsiert an ihrem Drink. »Da mögen Sie recht haben, meine Liebe. Joseph und ich haben uns auf der Fähre nach Oakland kennengelernt, vor einunddreißig Jahren. Stellen Sie sich vor, er wurde seekrank …«
»Abbie!«, wies ihr Mann sie missmutig zurecht. »Ich glaube kaum, dass sich die junge Dame dafür interessiert, wie wir uns kennengelernt
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