Im Land des weiten Himmels
haben.«
»Aber, Joseph! Du warst tatsächlich seekrank und …«
»Unsinn!«, schnitt er ihr unwirsch das Wort ab.
Hannah lächelte verlegen und trank einen Schluck, blickte aus einem der großen Fenster und ließ die Landschaft an sich vorüberfliegen. Ausgedehnte Wälder und liebliche Hügel, die nicht vermuten ließen, wie nahe New York und seine Vororte waren, vereinzelte Farmhäuser und Scheunen, hin und wieder ein Dorf und als ständiger Begleiter der ruhig dahinfließende Hudson River, in dessen Wasser sich die untergehende Sonne blutrot spiegelte. Wie leichte Nebelschwaden zogen die Rauchwolken aus der schnaufenden Dampflok vorbei.
»Es war ein langer Tag«, entschuldigte sich Hannah nach einer Weile bei dem Ehepaar. »Ich gehe wohl besser schlafen. Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise.«
»Oh, die Fahrt ist lang, wir sehen uns sicher noch ein paarmal.« Der griesgrämige Mr Farnworth hatte seiner Frau die Laune nicht verderben können. »Sie steigen doch in Chicago sicher auch in den Pacific Limited um?«
»Ja, das stimmt, Mrs Farnworth.«
»Abbie … Sagen Sie Abbie zu mir.«
»Gute Nacht, Abbie«, verabschiedete sich Hannah.
Vor dem Tresen begegnete sie dem Rothaarigen mit der Narbe, der ihr vor der Abfahrt in ihrem Abteil zugenickt hatte. Diesmal sprach er sie an: »Darf ich Sie zu einem Drink einladen, Süße? Hier gibt’s erstklassige Cocktails. Schon erstaunlich, was die ohne Alkohol zusammenbrauen können.«
»Nein, vielen Dank«, lehnte sie ab. Obwohl ihr der Kerl äußerst unsympathisch war, wäre sie bei einem Sandwich vielleicht schwach geworden. »Ich brauche dringend Ruhe.«
Sie kehrte an ihren Platz zurück und kam gerade rechtzeitig, um dem Schaffner beim Beziehen ihres Bettes zuzusehen. Es war schon erstaunlich, wie einfach man die Sitze zu einem bequemen Nachtlager zusammenschieben konnte. Er klopfte auf das Kissen und legte ein Handtuch und einen Beutel mit Zahnbürste, Zahnpasta und Seife darauf. »Der Waschraum befindet sich am Ende des Wagens«, sagte er, »ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.«
Sie beließ es bei einer flüchtigen Katzenwäsche, schlüpfte in ihr warmes Flanellnachthemd und kroch in ihr Bett. Die kleine Lampe hatte der Schaffner bereits angeknipst. Sie schloss die Vorhänge, schaffte noch eine Seite in ihrem Buch und schlief ein. Das dumpfe Rattern der Räder trug sie in einen wirren Traum und ließ sie mehrmals aus dem Schlaf schrecken, obwohl der Zug ungewöhnlich ruhig fuhr und es kaum Kurven gab. Als sie wieder einmal aufwachte und verschlafen aus dem Fenster blickte, sah sie die Main Street einer Kleinstadt vorbeihuschen. Die Uhr an dem giebelförmigen Rathaus, die im Licht des vollen Mondes deutlich zu erkennen war, zeigte zwei Uhr dreißig an. Hannah schob ihr Buch, das sich in der Decke verfangen hatte und sie beim Zudecken behinderte, zur Seite und wollte sich gerade wieder hinlegen, als sie leise Schritte im Gang vernahm.
Durch einen Spalt im Vorhang, der durch einen leichten Windhauch aufgebauscht wurde, beobachtete sie den Schatten eines Mannes im Morgenmantel, der langsam näher kam. Ein Passagier, der auf die Toilette muss, sagte sie sich, doch im nächsten Augenblick erkannte sie das Gesicht des Mannes im Zwielicht der Nachtbeleuchtung und wurde misstrauisch. Der unangenehme Mensch, dem sie schon zweimal begegnet war und vielleicht sogar ein drittes Mal in der Bahnhofshalle. Irgendetwas an seinem Verhalten kam ihr merkwürdig vor, die Art, wie er sich bewegte, seine leisen Schritte, als hätte er Angst, entdeckt zu werden.
Als er nur noch wenige Schritte von ihrer Koje entfernt war, legte sie sich leise hin und schloss die Augen. Sie hörte, wie er vor ihrem Vorhang stehen blieb, dann aber ging er endlich weiter und entfernte sich von ihr. Vorsichtig setzte sie sich auf und schob den Vorhang gerade so weit auf, dass sie den Mann sehen konnte. Er wandte ihr jetzt den Rücken zu und blieb vor dem letzten Abteil auf ihrer Seite stehen. Das gehörte Joseph und Abbie Farnworth, wie sie inzwischen wusste. Die Frau hatte ihr noch einmal zugewinkt, als sie an ihre Plätze zurückgekehrt waren.
Der junge Mann blickte sich wachsam um, und Hannah schaffte es gerade noch, den Kopf einzuziehen. Als sie es wieder wagte, durch den Spalt zu spähen, beobachtete sie, wie der Mann sachte den Vorhang auseinanderzog, nach irgendetwas in der Koje des Ehepaares suchte und schon wenige Augenblicke später wieder auftauchte. Er betrachtete zufrieden
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