Im Land des weiten Himmels
nichts an ihr auszusetzen, sagte nur: »Für eine Lady aus New York ist das schon ganz ordentlich. Wenn man bedenkt …«
»… dass ich eine Frau bin?«, ahnte Hannah, was er sagen wollte. »Lassen Sie die blöden Sprüche, Cowboy! Und ich bin weder eine Lady, noch will ich Missy genannt werden. Ich hoffe, das geht langsam in Ihren Kopf rein.«
»Ein Cowboy war ich mal, unten in Montana.« Er ließ sein Maultier über einen Ast steigen und beobachtete Hannah, die sich durch das Hindernis ebenfalls nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Warum wollen Sie eigentlich zu Ihrem Onkel hoch? Braucht er plötzlich ein Kindermädchen?«
Hannah hatte nicht vor, die unerfüllte Liebe zwischen ihrem Onkel Leopold und ihrer Mutter an die große Glocke zu hängen. »Das ist eine lange Geschichte, Buddy. Er wird wohl langsam zu alt, um den Einsiedler zu spielen.«
»Also doch Kindermädchen?«
»Ich erfülle mir einen Traum.«
Sie hatten die Felder hinter sich gelassen und ritten jetzt durch lichten Wald. Der schmale Trail führte am Ufer des Tanana River entlang. Die Sonne hatte die morgendlichen Nebelschwaden vom Fluss getrieben und war so warm, dass Hannah am liebsten ihre Jacke ausgezogen hätte. Einige Mücken schwirrten um sie herum und machten auch dem Maultier das Leben schwer.
Buddy ließ sie aufschließen und zog eine Flasche aus seiner Jackentasche. »Kein Whiskey«, beantwortete er ihren vorwurfsvollen Blick. »Citronella-Öl.« Er reichte ihr die Flasche. »Schmieren Sie sich das Zeug auf die Haut, das hält die Biester einigermaßen ab. Hab ich vom Besitzer eines Drugstore.«
Sie griff nach der Flasche. »Citronella-Öl?«
»Irgendein Kraut aus Asien. Wirkt besser als Zigarrenrauch.«
Sie befolgte seinen Rat und hatte damit tatsächlich Erfolg. Die Mücken hielten sich von ihr fern und belästigten nur noch das Maultier, das alle paar Schritte wütend schnaubte. Erst als der Pfad vom Fluss wegführte, wurden die Mücken seltener, und sie ritten wieder ungestört durch das wilde Land.
Als sie den Wald hinter sich ließen und eine Anhöhe erklommen, griff Hannah ihrem Maultier in die Zügel. Zu beeindruckend war der Ausblick, der sich ihren Augen bot. Jenseits der von bunten Wildblumen bedeckten Wiese und der dunklen Wälder, die weiter nördlich auf sie warteten, erhoben sich die Gipfel der White Mountains in den morgendlichen Himmel. Und anders als am Mount Rainier und am Mount McKinley, wo sie in einem modernen Flugzeug gesessen hatte, ritt sie jetzt auf einem Maultier und fühlte sich dieser Wildnis unmittelbar verbunden. Zu der gewaltigen Kulisse, die sich vor ihren Augen auftat, kamen jetzt noch die Stimmen der Natur – das leise Rauschen des Windes, das Zwitschern der Vögel, der Ruf eines Tieres und der Geruch der nassen Erde, so würzig und intensiv, dass sie die Augen schloss und tief einatmete. Der Geruch erinnerte sie ein wenig an ihre Kindheit, an den Kartoffelacker nach einem heftigen Regen, und doch war hier alles anders, berührte die Natur hier alle Sinne, ließ einen ahnen, was Gott sich bei der Schöpfung gedacht hatte.
»Was ist? Machen Sie schon schlapp?«, rief der Postreiter.
»Ist es nicht wunderschön hier?«
Buddy blickte in die Runde und lächelte hintergründig. »Zum Glück wissen das nur wenige Leute, und wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie die erste Frau, die so was zu mir sagt. Nicht mal der Goldrausch hat an der Pracht hier etwas ändern können. Die Damen«, sagte er abfällig, »hatten glücklicherweise in dem Zusammenhang auch andere Interessen. Wenn sich mehr Leute für Alaska begeistern könnten, gäbe es hier sicher schon jede Menge Städte und Straßen, und einigermaßen frei bewegen könnte man sich nur noch in einem Nationalpark wie McKinley, weil hier alles zugebaut wäre.«
»So schlimm wird es wohl hoffentlich nie kommen«, sagte Hannah. »Ich hab New York verlassen, um endlich mal durchatmen zu können. Aber selbst wenn aus Anchorage oder Fairbanks ein zweites New York würde, gäbe es hier draußen immer noch Wildnis, oder meinen Sie nicht?«
»Wer weiß«, antwortete er und ritt weiter. »Als ich nach Montana kam, konnte man dort bis zum Horizont sehen und wir konnten unsere Rinder ungestört über die Weide treiben. Dann kamen immer mehr Siedler und rückten mir so dicht auf den Pelz, dass mir irgendwann nichts anderes übrigblieb, als meine Sachen zu packen. Aber Sie haben recht, Missy. Alaska ist verdammt groß, und bis es hier so aussieht, liege ich
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